Interview mit Stephanie Jentgens "Vorlesen ist ein Geschenk an die Kinder"

Remscheid · Stephanie Jentgens ist Leiterin des Fachbereichs Literatur an der Akademie auf Küppelstein. Im Interview erklärt sie, welchen Einfluss regelmäßiges Vorlesen auf die Entwicklung von Kindern hat und gibt Buchtipps.

 Ein Vater liest seinen Kindern vor (Symbolbild).

Ein Vater liest seinen Kindern vor (Symbolbild).

Foto: dpa, pp_ae_son pil

Warum brauchen Kinder Geschichten, die ihnen vorgelesen werden?

Jentgens Das Vorlesen ist ein Moment der Zuwendung, es ist wie ein Geschenk, das Eltern oder Großeltern Kindern machen können. Es entsteht ein Moment der Vertrautheit. Man teilt eine Vorstellungswelt und Gedanken miteinander. Geschichten regen die Fantasie der Kinder an. Sie versetzen sich beim Hören einer Geschichte in andere Situationen und Personen hinein, erlernen so Empathie. Geschichten geben mögliche Antworten auf viele Fragen des Lebens, sie erklären die Welt, helfen sie zu strukturieren und zu hinterfragen. Geschichten können Kindern helfen, sich in der Welt zurechtzufinden.

Welchen Einfluss hat das Vorlesen auf die Entwicklung des Kindes?

Jentgens Das Vorlesen fördert die geistige und emotionale Entwicklung von Kindern. Sie lernen in der Fiktion wie in einem Experiment Handlungsmöglichkeiten abzuwägen und vorauszudenken. Durch die Zuwendung, die Kinder im Moment des Vorlesens erfahren, wird zugleich auch das Medium Buch positiv im kindlichen Bewusstsein abgespeichert. Wenn es dann später an den mühsamen Prozess des Lesenlernens geht, ist das Buch als ein Objekt spannender und schöner Erlebnisse für das Kind attraktiv, dadurch fällt das Lernen leichter.

Kann ein gemeinsam geschauter Film das Vorlesen ersetzen?

Jentgens Gemeinsam einen Film anzuschauen, kann auch ein schöner Moment sein, aber das Vorlesen kann hierdurch nicht ersetzt werden. Beim Vorlesen ist das Kind und auch der Erwachsene sehr viel mehr gefordert. Im Unterschied zum Anschauen eines Films müssen beim Vorlesen innere Bilder zu den sprachlichen Äußerungen entwickelt werden. Das ist eine anspruchsvolle und zugleich fördernde Situation.

Haben Sie den Eindruck, dass in den Familien seltener Vorgelesen wird als früher?

Jentgens Die Vorlesestudien der Stiftung Lesen bestätigen dies. So heißt es z.B. in der jüngsten Vorlesestudie (2017), dass 55 Prozent aller Eltern ihren Kindern im ersten Lebensjahr nicht regelmäßig vorlesen. In 28 Prozent der Familien ist das sogar innerhalb der ersten drei Lebensjahre der Kinder der Fall.

Was macht eine gute Vorleserin aus?

Jentgens Was heißt schon "gut"? Es geht nicht darum, ein Profi, wie der Schauspieler Rufus Beck, zu werden. Man sollte Freude an dem haben, was man vorliest, sollte selbst in die Geschichte beim Vorlesen eintauchen. Zeit und Lust sind die wichtigsten Voraussetzungen.

Manche Eltern sind ungeübt im Vorlesen. Was können Sie tun?

Jentgens Jeden Tag 15 Minuten vorlesen und es wird mit Sicherheit zu einer Verbesserung kommen.

Vorlesen ist weiblich, oder?

Jentgens Muss das so sein? Nein! Männer können genau so gut oder auch genau so schlecht vorlesen wie Frauen. Man(n) muss es nur tun.

Kinder wollen häufig immer wieder die gleiche Geschichte hören. Sollte man darauf eingehen?

Jentgens Auf jeden Fall, denn für die Kinder bedeutet die Wiederholung ein Gefühl von Sicherheit. Sie können sich in der Welt der Geschichte orientieren, prägen sich die Wörter und Redewendungen ein. Das hat einen positiven Einfluss auf die Sprachfähigkeit des Kindes.

Wie finde ich gute Literatur für mein Kind?

Jentgens Es gibt viele Empfehlungslisten und Preise zur Kinder- und Jugendliteratur. Der Deutsche Jugendliteraturpreis wird jedes Jahr verliehen. Hier sollte man die Nominierungsliste, die im Frühjahr auf der Leipziger Buchmesse bekannt gegeben wird, nicht verpassen. Man findet die Liste unter "www.jugendliteratur.org". Tipps für Erstleser findet man zum Beispiel auf der Internetseite des Borromäusvereins.

Ab welchem Alter sollte das Kind selber lesen und das Vorlesen enden?

Jentgens Das Vorlesen sollte nie enden! Gerade wenn die Kinder in der Schule das Lesen erlernen, brauchen sie auch entspannte Momente, in denen sie einfach nur zuhören und eintauchen dürfen.

Ist das freie Erzählen von Geschichten nicht noch besser als das Vorlesen von Büchern?

Jentgens Das freie Erzählen ist nicht "besser", es ist eine andere Zugangsmöglichkeit zu Geschichten, die ganz ohne Hürden auskommt. Der oder die Erzähler/in kann direkt auf das Kind, das zuhört, eingehen. Das eröffnet viele Möglichkeiten, flexibel zu reagieren. Erzählen können auch Menschen, die keinen Zugang zur Buchkultur haben. Aber es gibt kein entweder - oder beziehungsweise besser oder schlechter, wenn es um das Erzählen und das Vorlesen geht. Beides sind hervorragende Varianten, um in die Welt von Geschichten einzutauchen.

Ihre drei Lieblingsbücher für Kinder zwischen drei und sechs Jahren?

Jentgens Lieblingsbücher sind immer schwer zu benennen, aber gern gebe ich drei Lesetipps: Für die Dreijährigen eignet sich die Bilderbuchreihe von Stephanie Blake: "Pipikack", "Ich will Nudeln" und "Babyfratz". Alle Bände sind im Moritz Verlag erschienen. Ein wunderbares Bilderbuch zum Vorlesen vor dem Einschlafen ist: "Nachts, wenn alles schläft..." von Britta Teckentrup (Prestel Verlag 2016). Ein Vorlesebuch für die ganze Familie oder auch für erste Versuche im Selberlesen ist Ludovic Flamant, Jean-Luc Englebert: "Puppen sind doch nichts für Jungen!" (Picus Verlag 2017).

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort