Radevormwald Aus einem Leben ohne Kompass

Radevormwald · Beim Liederabend "Rio Reiser - Wann, wenn nicht jetzt?" waren am Mittwochabend rund 140 Zuschauer ins Bürgerhaus gekommen. Sie erlebten ein großartiges Ensemble und tolle Musik mit dem Rheinischen Landestheater Neuss (RLT).

 Schlüpfte in die Rolle Rio Reisers: Philipp Alfons Heitmann.

Schlüpfte in die Rolle Rio Reisers: Philipp Alfons Heitmann.

Foto: Hickmann/RLT)

Das Ensemble des RLT hatte sich in einer Produktion von Sebastian Zarzutzki einem der schillerndsten deutschen Musiker unserer Zeit gewidmet: "Rio Reiser - Wann, wenn nicht jetzt?" hieß der Liederabend mit Live-Band, den am Mittwochabend rund 140 Zuschauer im Rader Bürgerhaus sehen wollten.

Und die Zuschauer bekamen einen hochemotionalen Rückblick auf das rastlose Leben Reisers, dessen bürgerlicher Name Ralph Möbius ihm schon bald zu banal erschien. Mit seiner Band "Ton Steine Scherben" schuf Reiser Hits, die ins kollektive Gedächtnis der sich damals emanzipierenden Bundesrepublik eingingen - und auch heute noch gerne gehört werden. Gut gealtert, möchte man sagen. "Der Sound der Scherben war ein Kompass. Der einzige Kompass, der zum Herzen zeigte...", so kommentierte es einer der vier hervorragend aufspielenden Akteure einmal.

Dabei hätte Reiser selbst einen Kompass durch sein Leben wohl am nötigsten gehabt. Der "König von Deutschland", der er selbst keineswegs sein wollte, scheiterte nämlich letztlich an sich selbst und an seinem zerrissenen und rastlosen Leben. Mit 19 Jahren träumt er noch davon, Rockstar zu werden - und wo ginge das Anfang der 1970er-Jahre besser als in West-Berlin, dieser freien, chaotischen und doch eingesperrten halben Hauptstadt? Zum Rockstar hat er es allerdings erst zur Wende gebracht, als der besagte "König von Deutschland" noch einmal richtig durchstartete. Zur Ruhe kam der Künstler indes nicht mehr, und so war sein früher Tod 1996 die folgerichtige, wenngleich tragische, Konsequenz dieses Lebens ohne Kompass.

Am Mittwochabend nun wurde Reiser gleich von vier Schauspielern dargestellt: Anna Lisa Grebe, Philipp Alfons Heitmann, Michael Meichßner und Stefan Schleue ergänzten sich mit leidenschaftlichem bis nachdenklichem Spiel. Und brachten das Selbstverständnis und auch das Selbstbewusstsein Reisers und der Band "Ton Steine Scherben" mit markigen Sprüchen auf den Punkt: "Wir sind keine Band, wir sind ein Symbol!". Oder "Punk ist in, aber wir sind out - Berlin ist kein Kriegsschauplatz mehr, Berlin ist Berlin!"

Eingebettet war diese hochinteressante Zeitreise in die Songs der Band und diverse Solostücke Reisers. Für den dazu passenden Sound sorgte die vierköpfige Band im Hintergrund: Jürgen Dahmen (Klavier/Keyboard), Stefan Gesell (Schlagzeug), Daniele Lucci (Gitarre) und Konstantin Wienstroer (Bass). Dadurch war der ewige Konflikt der "Ton Stein Scherben" - Kunst oder Kommerz? - ein tongewordener Kompromiss geworden: Es handelte sich bei der Musik der Berliner eben um kommerziell erfolgreiche Kunst. Eine der Manager war die heutige Grünen-Politikerin Claudia Roth.

Höhepunkt, kurz vor Schluss der etwa Reiser-Werkschau, war dann der schon erwähnte "König von Deutschland". Der steigerte sich nämlich von einer zerbrechlichen Akustikversion zur glamourös rockenden Show, zu der die vier Rios in goldenen Jacken synchron tanzten (Kostüme: Jule Dohrn-van Rossum). Das Publikum stand da bereits und klatschte mit. "Bin ich das, was du von mir erwartest?", fragte ein Rio dann am Schluss, und "Wer bin ich denn und wie kam's dazu?". Diese Fragen könnten auch als Fazit unter Reisers Leben stehen. Oder auch: "Der Traum ist aus - aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird." Ein 90-minütiger Traum war dieser Liederabend auch. Mit - völlig berechtigt - stehendem Applaus nach dem Schlussakkord.

(wow)
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