Herbert Reul "Angst ist eine ganz schlechte Kategorie"

Radevormwald · Herbert Reul ist Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Europäischen Parlament in Brüssel und vertritt dort auch das Bergische Land.

 Herbert Reul setzt sich immer wieder auch für die Anliegen der Bürger im Bergischen Land ein. Er glaubt, dass sich in spätestens zwei Jahren entscheiden wird, ob das europäische Projekt Bestand hat.

Herbert Reul setzt sich immer wieder auch für die Anliegen der Bürger im Bergischen Land ein. Er glaubt, dass sich in spätestens zwei Jahren entscheiden wird, ob das europäische Projekt Bestand hat.

Foto: andreas endermann (archiv)

Herr Reul, inwieweit betrifft das politische Geschehen in Brüssel das Bergische Land?

Reul Wenn Europa nicht funktioniert, dann wird auch das Bergische Probleme haben. Frieden schaffen, Wohlstand sichern, Wachstum organisieren - das hat auch etwas damit zu tun, dass Betriebe im Bergischen internationale Geschäfte machen können. Das hängt mit der Schaffung von Arbeitsplätzen zusammen. Wenn wir in Europa Regelungen zum Verbraucherschutz oder Umweltschutz machen, betrifft das auch die Menschen, die im Bergischen wohnen oder unterwegs sind. Angefangen bei Regelungen für Pauschalreisen über das Energielabel auf Elektrogeräten bis hin zum Klimaschutz betrifft das auch Spielzeug, das sicherer wird, wenn es auf den europäischen Markt kommt - und dann auch im Spielzeugladen in Radevormwald verkauft wird. So kann man fast jedes Thema durchdeklinieren - alle Entscheidungen in Brüssel haben Auswirkungen vor Ort.

Was bewegt die Menschen aus der Region, die bei Ihnen vorstellig werden?

Reul Das ist sehr unterschiedlich. Manche kommen mit ganz konkreten Anliegen, weil sie etwa ein Ferienhaus irgendwo in Europa haben oder weil sie irgendwo im Ausland gearbeitet haben - das sind ganz persönliche Probleme. Die meisten haben aber eher grundsätzliche Fragen: Funktioniert das europäische Projekt? Ist es gefährdet? Sind alle Entscheidungen aus Brüssel richtig? Ich bin auch viel in Unternehmen vor Ort, da bekomme ich immer wieder mit, dass so manche Regulierungen in der Praxis nicht so gut sind. Daher bin ich auch in Brüssel dafür eingetreten, dass wir weniger regulieren sollten, sondern uns viel mehr um die großen Dinge kümmern müssen.

Was können Sie von Brüssel aus für das Bergische tun?

Reul Manchmal ist das ganz praktisch: Beispielsweise hat die Kampagne zur Abschaffung der Zeitumstellung (Sommer-/Winterzeit) begonnen, nachdem mich eine Bürgerin angeschrieben hatte. Sie hat mich auf das Thema aufmerksam gemacht - ich hätte das zuvor gar nicht als Anliegen gesehen. Manchmal sind es auch ganz konkrete Bitten um direkte Unterstützung - da kann man helfen oder auch nicht. Genauso ist es, wenn es um Fragen im Unternehmerbereich geht: Wenn man mich auf die Bedeutung des internationalen Handels hinweist, kann ich mich da einmischen.

Ist das ein schwer zu schaffender Spagat für Sie, an beiden Orten präsent zu sein?

Reul Das ist in erster Linie eine Frage der Organisation und mit vielen Reisen verbunden. Aber mein Arbeitsplatz ist nicht ein einzelner Bürostuhl. Ich nehme die Aufgaben im Parlamentsalltag ebenso gerne wahr und ernst, wie die Gespräche im Bergischen Land. Nur wenn ich weiß, was die Menschen hier bewegt und wo der Schuh drückt, kann ich etwas für sie in Europa verändern.

Mit Blick auf das Superwahljahr: Kippt die rot-grüne Landesregierung in NRW?

Reul Das kann man schwer sagen. Die SPD hat plötzlich einen Höhenflug, aber keiner weiß, wie das in ein paar Monaten aussieht. Die Stimmungslage der Menschen ist beweglich. Ich glaube, wenn man sich die Leistung, die wir in Düsseldorf in den vergangenen Jahren erlebt haben, ansieht, dann wäre es eigentlich Zeit für einen Wechsel. Die allermeiste Zeit der NRW-Geschichte haben wir eine sozialdemokratische Regierung gehabt - und die kommen nicht vom Fleck. Nicht in Wirtschaftsfragen, nicht in der Qualifikation junger Menschen. Das kann einen nicht beruhigen.

Sehen Sie die Gefahr, dass Deutschland insgesamt nach Rechts driftet?

Reul Es kommt drauf an. Momentan sieht man einen SPD-Hype durch Schulz. Es ist fraglich, ob der hält. Es gibt aber auch ein Problem mit Rechts durch die AfD. Die verliert zurzeit aber wieder stark an Zustimmung. Das Beste, was Politik machen kann, ist die Probleme zu lösen, die da sind. Die großen Parteien müssen den Leuten zeigen, dass sie das können. Dann braucht man diese Radikalinskis nicht. Das merkt man schon jetzt: Die Umfragewerte der AfD gehen auf die Einstelligkeit zurück. Das ist immer noch zu viel, aber weniger als vorher.

Sie kennen Martin Schulz lange Jahre - hat er Chancen aufs Kanzleramt?

Reul Gering. Weil ich glaube, dass wir nach der ersten Begeisterung und der Beruhigung der SPD als Partei da genauer hinsehen müssen. Ich kenne ihn als einen, der flotte Sprüche macht, aber nicht sehr verlässlich in seinen inhaltlichen Aussagen ist. Das haben wir schon beim Thema Arbeitslosengeld gemerkt: Ein öffentlicher Spruch, der in der Sache nicht gedeckt war, und dann einen Vorschlag, der mit dem, was er kritisiert hat, eigentlich nicht mehr viel zu tun hat. Wenn das öfter passiert, werden die Leute das merken. Es ist doch so: Gucken die Menschen auf die Details und Fakten oder lassen sie sich durch die Sprüche blenden?

Wie ist in Brüssel die Stimmung bei all den Populisten?

Reul Viele sind sehr beunruhigt. Wir haben die Wahlen in Frankreich, da weiß keiner, wie das ausgeht. Aber auf der anderen Seite gibt es auch wieder Sachen, die einen beruhigen: In Österreich hat der grüne Kandidat die Wahl zum Bundespräsidenten gegen den Rechtspopulisten gewonnen. In Kroatien ist ein Fraktionskollege von mir mit einem pro-europäischen Konzept Ministerpräsident geworden. Und erst letzte Woche haben die Pro-Europäer die Wahlen in den Niederlanden gewonnen. Es geht also. Wir müssen dafür aber Ergebnisse schaffen und für eine realistische Politik werben. Realistisch heißt: in komplizierten Zeiten mit Zeit und Geduld arbeiten.

Steht Europa an einem Scheideweg?

Reul Hundertprozentig. Ich bin sicher, dass sich in den nächsten Monaten, längstens ein bis zwei Jahren, entscheiden wird, ob das europäische Projekt Bestand hat oder ob es vorbei ist. Der Brexit ist da natürlich eine Frage. Viel entscheidender ist aber, ob wir die Zustimmung der Menschen dafür bekommen. Wir müssen zeigen, dass manche Probleme eben besser gemeinsam zu lösen sind. Wir müssen nicht jeden Kleinkram regeln, aber es gibt große Fragen: Terror, Flüchtlinge, Wachstum, internationale Konflikte, wie reagiert man auf internationale Wirtschaftskrisen? Das kann ein Staat in einer globalisierten Welt nicht allein lösen - und das weiß auch jeder. Die Frage ist nur: Können wir beweisen, dass wir das gemeinsam hinkriegen? Wenn das der Fall ist, habe ich keine Sorge, dass das europäische Projekt eine Zukunft hat.

Haben Sie Angst um die europäische Idee?

Reul Angst ist für einen Politiker eine ganz schlechte Kategorie. Sorge und Unruhe, die habe ich. Aber das bedeutet ja, dass man sich kümmern muss. Dafür haben wir ja den Kopf auf die Schultern gesetzt bekommen - damit wir ihn nicht in den Sand stecken, sondern damit wir ihn einsetzen, um Probleme zu lösen.

Welche Auswirkungen wird der Brexit auf das Bergische Land haben?

Reul Genau kann das keiner sagen. Es ist schade und schlimm, wenn ein großer Staat fehlt. Ob das aber konkrete Auswirkungen hat, kann ich wirklich und ehrlich nicht beantworten. Ich denke, es hängt vor allem davon ab, wie die Beziehungen künftig formuliert werden: Gibt es einen Vertrag, in dem festgehalten wird, dass es auch künftig Handel zwischen Großbritannien und den EU-Staaten geben kann? Da wird es vermutlich eine Lösung geben, und dann sind die Folgen, was Wirtschaftsbeziehungen und Arbeitsplätze angeht, vermutlich überschaubar.

Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind runtergefahren - wie geht man mit Erdogan und seinen Nazivergleichen in Brüssel um?

Reul Das ist überhaupt nicht akzeptabel: Weder die Nazivergleiche, noch was sonst in der Türkei passiert. Wir haben im Europäischen Parlament einen Beschluss gefasst, dass es vernünftig wäre, die Beitrittsverhandlung auszusetzen. Es ist unehrlich, so zu tun, als ob es für einen Beitritt eine Chance gäbe, denn die gibt es im Moment nicht. Wenn sich die Beziehungen wieder normalisiert haben, eine andere Arbeitskultur vorhanden ist, kann man die Gespräche wieder aufnehmen. Sie komplett abzubrechen wäre falsch, aber über einen Beitritt braucht man nicht zu diskutieren.

DAS INTERVIEW FÜHRTE WOLFGANG WEITZDÖRFER

(RP)
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