Neuss Wut und Melancholie

Neuss · Sebastian Zarzutzkis Stück über Rio Reiser am RLT ist Hommage und kritische Auseinandersetzung.

 Vier Schauspieler singen wie Rio Reiser und schlüpfen in seine Rolle: Hier ist es Alfons Philipp Heitmann.

Vier Schauspieler singen wie Rio Reiser und schlüpfen in seine Rolle: Hier ist es Alfons Philipp Heitmann.

Foto: Björn Hickmann

Dies ist der Abend der Künstler, des gesamten Ensembles. Sollte bei einem Theaterabend natürlich immer so sein, aber ist in diesem Fall schon der besonderen Erwähnung wert. Denn das Ensemble besteht aus jenen, die auf der Bühne stehen, jenen, die vor der Bühne stehen und jenen, die hinter der Bühne arbeiten.

Keiner könnte ohne den anderen diesen Abend stemmen. Angefangen bei den vier Schauspielern Anna Lisa Grebe, Alfons Philipp Heitmann, Stefan Schleue, Michael Meichßner und den Musikern Jürgen Dahmen (Piano, Keyboards), Konstantin Wienstroer (Bass), Stefan Gesell (Schlagzeug), Daniele Lucci (Gitarre), über Regisseur Sebastian Zarzutzki und Dramaturg Reinar Ortmann bis hin zu Jule Dohrn-van Rossum (Ausstattung) und Daniela Donatz (Vocal Coach).

"Ein Liederabend mit Live-Band" ist das Stück im RLT, das völlig zu Recht vom Publikum am Ende mit "Standing Ovations" gefeiert wurde, etwas lakonisch im Untertitel bezeichnet. Die Geschichte des Rio Reiser, des mit 46 Jahren gestorbenen Sängers der Band Ton Steine Scherben, steht im Mittelpunkt - was aber natürlich nicht ohne dessen Musik geht und sich auch im Stücktitel "Wann, wenn nicht jetzt?" spiegelt. Der Song "Wann?" ist von 1987, als es die Band schon nicht mehr gab und der schon desillusionierte Singer/Songwriter bekannte: "Ich schaff's einfach nicht, zuzusehen, wie alles den Berg runtergeht."

Zweifellos war Rio Reiser, der als Ralph Möbius in Berlin geboren wurde, seine Kindheit in mehreren Städten erlebt hatte, ein politischer Mensch. Auch noch, als seine Band hochverschuldet aufgab, sich die WG im beschaulichen Fresenhagen auflöste und Reiser in West-Berlin eine Solokarriere begann, die ihn mit dem "König von Deutschland" in die Charts brachte. Doch dass Reisers musikalisches Vermächtnis mehr ausmacht als Anarcho-Hymnen wie "Keine Macht für niemand", "Macht kaputt, was euch kaputt macht" oder Hits wie "König von Deutschland" und "Alles Lüge" zeigt dieser Abend im RLT.

Der Musiker Zarzutzki hat eine Playlist zusammengestellt, die bis in die Zugabe hinein die lyrische Kraft eines Menschen zeigt, der nicht nur agitieren will, sondern auch träumen kann. Von der Liebe auf Augenhöhe ("Komm, schlaf bei mir"), von einem friedvollen Zusammenleben ("Zuhause") und von Sehnsucht ("Hoffnung"). Der Autor und Regisseur Zarzutzki hat darum herum Szenen kreiert, mit Zitaten von und über Reiser, die seinen trockenen Witz, diesen irrlichternden und suchenden Menschen ebenso zeigen wie den genialen Musiker - zu Lasten aber des politischen Kopfes, der er bis zum Schluss war.

Die Umstände in den 1970er bis 90er Jahre werden nur gestreift, es geht einzig um den Menschen. Aber wie komplex er gestrickt war - davon vermittelt der Abend höchstens eine Ahnung. Wenn man dem Autor überhaupt etwas vorwerfen kann, dann das, worunter der Ex-Sänger von Ton Steine Scherben auch gelitten hat: Er macht Rio Reiser massenkompatibel.

Das Spiel der vier tollen Schauspieler, die einheitlich in Anzug und Hemd gekleidet sind, von denen jeder Rio und mal nur ein Teil von ihm ist, konzentriert sich elementar auf den Blick in Reisers Innenwelt. Der aber setzt sich kongenial in den hervorragenden musikalischen Arrangements von Jürgen Dahmen fort.

Die überbordend gespielte Emotionalität und die Auswahl der Songs spiegeln auf jeden Fall wider, was Rio Reiser immer sein wollte: ehrlich.

(hbm)
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