Neuss Wo Demenzkranke das Malen lernen

Neuss · Die Diakonie im Neusser Süden hat im Heinrich-Grüber-Haus ein besonderes Projekt gestartet. Einmal in der Woche kommt die Kunstpädagogin Sibyll Rautenberg und lässt die Hausbesucher ihr kreatives Potenzial entdecken.

 Sibyll Rautenberg mit einer Arbeit der Bewohnerin Gisela Grahm.

Sibyll Rautenberg mit einer Arbeit der Bewohnerin Gisela Grahm.

Foto: A. Woitschützke

Kunsttherapeutische Projekte mit Demenzerkrankten sind keine Besonderheit. Meist arbeiten Sozialpädagogen mit den Betroffenen, malen Mandalas aus oder besuchen mit ihnen Kunstausstellungen. Ein ganz besonderes Projekt dagegen wagte das Heinrich-Grüber-Haus des Diakoniewerks Neuss Süd, in dem rund 90 Menschen leben, darunter etwa 80 Prozent (Schwerst)-Demenzerkrankte. Die Einrichtungsleiterin Karen Rothenbusch beauftragte die in Neuss lebende Kunstpädagogin und Künstlerin Sibyll Rautenberg, einmal pro Woche mit einigen der Bewohner künstlerisch zu arbeiten.

"Es war für uns alle ein Experiment", sagt Rautenberg, die als freiberufliche Theateragentin, Videokünstlerin und Kunstpädagogin arbeitet. Mit Kindern, Erwachsenen sowie behinderten Menschen war sie bereits häufig künstlerisch tätig. "Aber mit Demenzerkrankten habe ich nie zuvor gearbeitet." Nach mehr als einem Jahr seit Projektstart zieht die Künstlerin ein zufriedenes Fazit: "Es ist meine bislang kreativste und künstlerisch anspruchsvollste Arbeit gewesen."

Auch Geschäftsführerin Rothenbusch ist begeistert, wenn sie die unzähligen Bilder und Skizzen sieht, die im ganzen Haus verteilt sind. "Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass Demenzerkrankte nicht dazu lernen könnten", sagt sie. Die aussagekräftigen Bilder, die in vielen Fällen Ereignisse des Lebens der Demenzerkrankten widerspiegeln, belegen das Gegenteil. Die meist hochbetagten Frauen haben nicht nur unterschiedlichste Techniken erlernt. "Sie haben auch ganz eigene Stile entwickelt", so Rautenberg.

Zudem habe sich eine begeisterte Gruppendynamik entwickelt. "Die einzelnen Werke werden beklatscht, bejubelt, gelobt und bewundert", erzählt Rautenberg. Diese stetige Anerkennung wirke sich auf die Betroffenen aus. So spreche eine Frau, die sonst nur "hallo" gesagt oder "Hilfe" gerufen hatte, viel öfter. Eine andere, die die Farben essen wollte, müsse nur noch ganz selten davon abgehalten werden.

Rothenbusch ist so überzeugt von dem Kunstprojekt, dass sie ab August sogar eine zweite Gruppe einrichten wird. "Wir können uns das nur leisten, weil wir einen Förderverein haben, der uns so unterstützt."

Dabei sah es zu Beginn nicht nach einem erfolgreichen Experiment aus. "Nach zwei Monaten wollte ich eigentlich aufgeben", so Rautenberg. Denn zunächst schien es nicht so, dass sie die Frauen, die gemeinsam mit der Sozialdienstleiterin Ute Arndt aufgrund der Ergebnisse aus der sogenannten Biographie-Arbeit für das Kunstprojekt ausgewählt worden waren, erreichen konnte.

"Weiße Blätter und ein paar Stifte auszulegen - das ging gar nicht. Manche fanden schon Buntstifte eklig, andere haben Fingerfarben gegessen", beschreibt Rautenberg die Schwierigkeiten. Hinzukommt, dass etliche der Bewohner überhaupt nicht sprechen. "Ich fühlte mich wie in der Feldforschung, doch die Mitarbeiter haben mich immer wieder ermutigt, weiter zu machen."

Je spielerischer und sinnlicher sie den Demenzerkrankten Farben, Pinsel, Kreide oder Schwämme näherbrachte, umso kreativer wurden diese. "Ich will nicht heilen oder therapieren", sagt Rautenberg. "Ich möchte den Erkrankten künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten näher bringen."

Wie sehr ihr das gelungen ist, davon zeugen die Bilder, die das Heinrich-Grüber-Haus sogar im Rahmen einer Ausstellung zeigte. Die Künstlerin hat persönlich auch dazugelernt: "Ich habe mich immer gefragt, ob Demenz lebenswert ist. Heute weiß ich: Es ist so."

(BroerB)
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