Neuss Wie aus Anatols Stein "Rudi" wird

Neuss · Normalerweise schaut man auf die Kunst. Was ist, wenn die Kunst auf uns schaut? Wir haben es probiert. Zum Beispiel in Gnadental, wo Anatols "Steine an der Erft" stehen.

 Autorin Nicole Scharfetter betrachtet die Welt aus der Sicht des Kunstwerks von Anatol, dem sie den Namen "Rudi" gegeben hat.

Autorin Nicole Scharfetter betrachtet die Welt aus der Sicht des Kunstwerks von Anatol, dem sie den Namen "Rudi" gegeben hat.

Foto: Andreas Woitschützke

Im Terminkalender steht eine Verabredung, eine spezielle, eine, die ich so noch nicht hatte. 10 Uhr ist eingetragen, die genaue Adresse habe ich nicht - eine Grünfläche zwischen Grimlinghauser Brücke und Am Römerlager soll der Treffpunkt sein. Ich mache mich auf den Weg und suche das Gesicht, das ich bisher nur aus einem Bildband kenne, das auf mich freundlich wirkt und trotzdem kühl, steinern. Wen wundert's: Meine Verabredung ist ein Stein, das Kunstwerk von Anatol, das aussieht wie ein Fund aus einer anderen Zeit, die schon viele tausend Jahre zurückliegt, in Wirklichkeit aber nur halb so alt ist wie ich. Normalerweise schauen die Menschen auf die Kunst. Heute aber steht nicht die Skulptur im Mittelpunkt, sondern das, was sie sieht. Der Mensch, die Natur, die Umgebung.

Ich halte Ausschau nach dem Stein, finde ihn auf einem kleinen Hügel, dort wo sich der Weg gabelt, an der römischen Steinbrücke, die über die Erft führt. Ein ruhiges Plätzchen wurde für Anatols Stein ausgesucht, schattig und kühl. Wir lernen uns kennen, endlich persönlich, und weil wir ein bisschen Zeit miteinander verbringen werden, nenne ich den Stein Rudi. Einen kurzen Moment denke ich an Bert, aber der Stein ist kein Bert.

Ich gehe einmal um Rudi herum, setze mich an seine rechte Flanke und stelle fest: Gemütlich ist anders. Ich wechsel die Position, versuche es zu seiner linken - das ist besser. Eine ganze Weile sitzen Rudi und ich so da, aber ich komme nicht zur Ruhe - anders als Rudi, der neben mir hockt, sein Blick fest auf seine Umgebung gerichtet. Meine Gedanken kreisen um die Arbeit und den Haushalt. Ich habe vergessen, die Spülmaschine anzustellen. Irgendwann schafft Rudi das, was mir im normalen Leben so schwer fällt: abzuschalten. Um uns herum ist es still, kein Mensch weit und breit, der Tag auf Rudis Hügel hat noch gar nicht so recht begonnen um kurz nach 10 Uhr, und langsam komme ich in Rudis Welt an. Das Rascheln der Blätter und das Rauschen der Erft besänftigen mich - Rudi und ich beobachten eine Hummel, die vor uns auf- und abfliegt. Fühlt sich so Meditieren an?

Das Getrampel eines Joggers reißt mich aus dem Tagtraum. Ich schaue ihn an, für den Jogger aber sind wir Luft, zu sehr ist er auf seine Atmung konzentriert, seine Schritte, seine Musik, die aus seinem iPhone, das er um den Arm geschnallt hat, durch das Kabel in die Ohren dröhnt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Rudi keine Miene verzieht, offenbar ist der Jogger nicht der erste, der ihn ignoriert. Vermutlich hat Rudi einfach die Augen geschlossen, wer sich nicht für ihn interessiert, für den interessiert sich Rudi nicht.

Mit dem Jogger wird es um Rudis Hügel langsam lebendiger, Radfahrer und Fußgänger folgen ihm. Manche schauen uns neugierig an, dann schauen wir neugierig zurück. Andere fühlen sich ertappt, wenn wir ihrem Blick begegnen, sie weichen aus, tuscheln. Schon spannend, wie die Menschen reagieren, auf Rudi und auf mich - ein Verhaltensforscher hätte sicher Freude daran, das zu analysieren.

Vor uns halten drei Männer, Rentner. Vielmehr als die grauen Haare haben sie nicht gemein. Sie starren auf das Schild, das die Wanderwege in Neuss zeigt, das Schild, das Rudi tagein, tagaus sieht. Er könnte den Männern sicher weiterhelfen, das Streckennetz muss sich in sein Hirn eingebrannt haben. Einer der Männer entdeckt uns, es ist der in der engen Radlerhose, die nicht nur Hose ist, sondern auch noch Träger hat, wie ein Schwimmanzug für Profis. "Hallo", ruft er rüber, "hallo", rufe ich zurück. "Malen Sie", fragt er, "ich male nicht", antworte ich. "Dichten Sie", fragt er, "ich dichte nicht", sage ich. Seine Freunde werden hellhörig. Der eine, im khakifarbenen Zweiteiler mit Camouflage-Kappe, der sicher mal ein hohes Tier beim Militär war, und der andere in Shorts und T-Shirt, dessen Fahrrad mit einem Motor ausgestattet ist. "Da ist ja der Stein", sagt der Mann in Khaki, "von wem ist der noch mal?" "Anatol", sage ich. Die Metallarbeiten hätten ihm besser gefallen, sagt er, "die großen Krieger." Jetzt bin ich sicher, der Khaki-Camoulfage-Mann ist vom Militär. Die Drei wünschen mir viel Erfolg für mein "was auch immer Sie da tun", ich ihnen eine gute Fahrt.

Der Wind wird stärker, der Schatten dichter. Auch wenn es eigentlich warm ist an diesem Tag, ich beginne zu frieren. Rudi ist zwar ein toller Sitznachbar, und bestimmt auch ein großartiger Zuhörer, aber viel Wärme strahlt er nicht aus. Ich wünschte, ich hätte einen Kaffee oder eine Decke oder eine Jacke. Rudi aber hat weder Kaffee noch Decke noch Jacke. Einen Augenblick sitzen wir noch da, und ich fühle, wie die Gänsehaut an meinem Arm raufklettert. Der Moment, von Rudi Abschied zu nehmen. Ihm zu danken, dafür, dass er mir seine Welt gezeigt hat, seinen Blick aufs Leben. Abzuschalten und Ruhe zu finden. Lieber Rudi, wenn ich wieder eine Pause brauche, weiß ich jetzt, wo ich dich finde.

(NGZ)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort