Neuss Streichquartett im Zeughaus erfindet Klassiker der Musik neu

Neuss · Der volle Saal beim ersten Konzert der Saison der Zeughausreihe war der beste Beweis für die Worte von Kulturreferent Rainer Wiertz: "Der Besuch eines Konzerts solchen Formats ist heute kein großes gesellschaftliches Ereignis mehr, sondern die Besucher lassen sich bewusst auf die Musik ein."

Seinen vielbejubelten Auftritt hatte dort das hochprämierte Vision String Quartet mit den beiden Geigern Jacob Encke und Daniel Stoll, dem Bratschisten Sander Stuart und dem Cellisten Leonard Disselhorst. Das Quartett spielt im Stehen und auswendig - das ist schon äußerlich eine auffallende Spezialität dieser jungen Künstler. Hinzu kommt, dass sie Musik nicht originalgetreu wiedergeben, sondern gewissermaßen improvisierend sogar neu erfinden.

So jedenfalls haben die Zuhörer im Zeughaus diese Flaggschiffe der Quartett-Literatur noch nie gehört: der "Erlkönig" von Franz Schubert, das elegisch-ausdrucksstarke Streichquartett g-Moll von Claude Debussy, und noch einmal Franz Schubert mit "Der Tod und das Mädchen". Schubert hat seinen "Erlkönig" ursprünglich für Singstimme und Klavier komponiert, doch im Zeughaus wurde daraus eine "Vision"-eigene Fassung ohne Noten. Das frappierte die Zuhörer offenbar so sehr, dass sie bereits nach dem ersten Satz applaudierten.

Damit wurde der Erlkönig schlicht neu kreiert, wobei eine Violine die Singstimme übernahm. Zweifellos haben diese ungewöhnlichen Musiker bei allem tiefen Ernst der ausgewählten Stücke auch Showeffekte inszeniert. Die lenkten aber nicht im Geringsten von ihrem perfekten Vortrag ab. Im Gegenteil, die Bewegung und die unübersehbare nachbarliche Abstimmung der Musiker steigerten die Aufmerksamkeit noch ganz erheblich. Ist das nun ein Trick, klassische Musik dieses Ranges für die eingeschworene Gemeinde der Kenner und Liebhaber noch attraktiver vorzutragen? Sollen damit neue Fans aufgetan werden?

Da mag was dran sein. Jedenfalls wenn plumpe Anbiederung vermieden wird. Aber diese Gefahr besteht beim Vision String Quartet kaum, denn dazu ist die Qualität ihres Spiels zu eindrucksvoll und auch über jeden Zweifel erhaben.

Der Bogenstrich der jungen Musiker war präzise, und die famose Akustik im Saal half kräftig mit. Im Kern ging es darum, die unfassbare künstlerische Dichte, Tiefe und Pracht von Schubert und Debussy zu erfassen und interpretierend zu erschließen. Doch Visionen wie diese sind dringend. Und so begann die Eröffnung der Reihe Zeughauskonzerte mit einem Paukenschlag, auch wenn kein Beckeninstrument zur Stelle war.

(NGZ)
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