Neuss Stadtarchiv hütet 30.000 Totenzettel

Neuss · Die kleinen Kärtchen erzählen Stadtgeschichte aus drei Jahrhunderten.

 Heinrich Schram starb 1936. Ein Totenzettel erinnert an ihn.

Heinrich Schram starb 1936. Ein Totenzettel erinnert an ihn.

Foto: Stadtarchiv

Heinrich Anton Schmitz war ein achtbarer Mann. Zweimal war er verheiratet und hatte vier Kinder. Im Alter von 58 Jahren traf den Gerber ein harter Schicksalsschlag: Sein jüngster Sohn starb im Alter von nur elf Jahren. Der Vater, damals schon schwer krank, konnte den Tod seines Kindes nicht verkraften. Vier Wochen später starb auch er - am 13. Februar 1871.

Heinrich Anton Schmitz wäre vielleicht längst vergessen, wenn nicht sein Totenzettel im Stadtarchiv ein Stück Zeitgeschichte dokumentieren würde: ein paar Zeilen auf einem vergilbten, schwarz umrandeten Papier. Die Anrufung der Heiligen Jesus, Maria, Josef und Quirinus, auf der Rückseite ein kleines Gebet. "Totenzettel sind ein Stück Kulturgeschichte", sagt der Leiter des Stadtarchivs, Jens Metzdorf mit Blick auf den Totensonntag an diesem Wochenende. Bis ins 18. Jahrhundert reiche die Tradition zurück, bei Trauerfeiern kleine Kärtchen zu verteilen, die an den Verstorbenen erinnern sollen. "Zunächst waren sie Persönlichkeiten der Kirche vorbehalten. Das lag daran, dass die wenigsten Menschen des Lesens und Schreibens mächtig waren", so Metzdorf. Das Stadtarchiv hat rund 30.000 Totenzettel aus drei Jahrhunderten im Bestand.

Es sind individuelle Darstellungen der Verstorbenen. Religiöse Abbildungen sind zu sehen, ein Gebets- oder Sinnspruch. Einige zeigen Fotos des Toten. Manche kommen mit sehr wenig Text aus, wie bei der ehrwürdigen Schwester M. Rosa Schneider. Sie starb 1960 im Alter von 81 Jahren. Ihr Totenzettel erfasst nicht viel mehr als Geburts- und Sterbedaten.

"Totenzettel haben sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert", erklärt Metzdorf. Zu Beginn seien sie oftmals großformatig gewesen. Später sei das Format verkleinert worden, damit die Zettel in das Gebetbuch eingelegt werden konnten. "Eine Zeit lang schienen sie ganz zu verschwinden. Aber heute werden sie wieder häufig bei Beerdigungen verteilt", so Metzdorf.

Bilder und Texte lassen auf das Leben der Menschen schließen und sind teilweise eng mit der Neusser Stadtgeschichte verknüpft. Viele Totenzettel tragen die Namen bekannter Persönlichkeiten. Andere erinnern an die industrielle Geschichte der Stadt. Dazu gehört der Totenzettel von Heinrich Schram. Im Alter von nur 45 Jahren ist er 1936 bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen, heißt es auf seinem Totenzettel. Mit seinem Bruder Hermann hatte er bis dahin die Neusser Nudel- und Stärkefabrik geleitet. Ein großes Werk mit Hauptsitz an der Brandgasse und bis zu 1000 Beschäftigten, das 1963 geschlossen wurde. Dass Heinrich Schram unter anderem Mitglied im Ruderverein, bei den Neusser Scheibenschützen und der Bürgergesellschaft war, verraten die Todesanzeigen aus den Tageszeitungen der damaligen Zeit. "Inzwischen archivieren wir sie nicht mehr. Es gibt auch immer weniger davon. Das ist vielleicht der Grund, warum Totenzettel heute eine Art Renaissance erleben", so Jens Metzdorf.

(NGZ)
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