Neuss Schutz im Wahn suchen

Neuss · Reinar Ortmann inszeniert Dürrenmatts "Physiker" am RLT kurz, knapp und stringent.

 Johann Wilhelm Möbius (Alfons Philipp Heitmann) ist entsetzt: Schwester Monika (Alina Wolff) gesteht ihm ihre Liebe und will den Physiker aus der Anstalt holen. Die Erlaubnis der Chefärztin ist zugleich ihr Todesurteil: Möbius wird sie ermorden.

Johann Wilhelm Möbius (Alfons Philipp Heitmann) ist entsetzt: Schwester Monika (Alina Wolff) gesteht ihm ihre Liebe und will den Physiker aus der Anstalt holen. Die Erlaubnis der Chefärztin ist zugleich ihr Todesurteil: Möbius wird sie ermorden.

Foto: Björn Hickmann

Die Bühne sieht aus wie das Holodeck des Raumschiffes Enterpreises im Rohzustand. Auch die Schwesterntracht von Monika Stettler erinnert eher an eine Uniform aus einem Sciene-Fiction-Film, ihr Gebaren tut ein übriges dazu. Eine Perücke mit pechschwarzen Haaren und einem Pony, für den Gabriele Krone-Schmalz Pate gestanden hat, auf dem Kopf, aufgepumpt und kantig der Körper, abgezirkelt und steif der Sprachgestus: Die erste Viertelstunde von Reinar Ortmanns Inszenierung des Dramas "Die Physiker" am RLT erweckt bange Erwartungen: Macht der Regisseur eine völlig überspitze Satire aus diesem Stück, das Autor Friedrich Dürrenmatt zwar als Komödie charakterisierte, aber im Grunde eher eine Tragödie ist? Schließlich verhandelt es nichts anderes als große Fragen: Wie weit darf der Wissenschaftler gehen? Forschen, ohne die Folgen zu bedenken? Oder sein Wissen zurücknehmen, wenn die Folgen unübersehbar sind?

Doch all das Formalisierte, das Ortmann seinen hervorragenden Darstellern aufdrückt, und sich in der Ausstattung und den Kostümen von Ivonne Theodora Storm spiegelt, führt zielgerichtet zu eben diesem Diskurs. Ortmann (auch Chefdramaturg des RLT) verdichtet das Stück auf eine Weise, die der (nur) knapp 90-minütigen Aufführung eine große Wucht gibt und sie zu einem hermetisch abgeschlossenen, in sich stimmigen Ganzen werden lässt. Das klappt auch nicht zuletzt dank der großartigen Leistungen seiner Schauspieler.

Die zentrale Figur ist der Physiker Johann Wilhelm Möbius (Alfons Philipp Heitmann), der die Weltformel gefunden hat, aber um die tödlichen Folgen für die Menschheit weiß und lieber als verrückt gelten will, als zu erleben, dass er damit die Welt zerstört. Herbert Georg Beutler alias Physiker Alec Jasper Kilton (Stefan Schleue), hat ihn jedoch in der "Heilanstalt" von Mathilde von Zahnd (Katharina Dalichau) im Auftrag seines Geheimdienstes aufgespürt, lässt sich einweisen, indem er vorgibt, Sir Isaac Newton zu sein. Seine Gegenseite verkörpert Ernst Heinrich Ernesti alias Physiker Joseph Eisler (Joachim Berger), der vorgibt, Albert Einstein zu sein. Alle drei haben ihre Krankenschwestern ermordet, als diese ihnen zu nah kamen. "Befehl ist Befehl" argumentieren Eisler und Kilton, während Möbius in dem Mord an Monika die einzige Chance sieht, nicht wieder in die Welt hinausgehen zu müssen, denn "es ist vernünftiger, die Welt hält mich für verrückt".

Ortmann reduziert diese Vorgeschichte sprachlich auf das Wesentliche, inszeniert kurz und knapp und bringt die Figuren (bis hin zum überforderten Inspektor Voss des Andreas Spaniol) auf den Punkt. Das führt stringent zum Höhepunkt des Stücks: Kilton und Eisler enttarnen sich, jeder will Möbius für sein Land gewinnen, aber dieser verstrickt sie in eine Diskussion über die Verantwortung des Wissenschaftlers für die Welt: "Die Vernunft fordert den Gang ins Irrenhaus", sagt er - und letztlich folgen ihm die anderen beiden.

Aber die Realität, aus der sie geflohen sind, hat sie nicht nur eingeholt, sondern schon längst überholt. Möbius' Forschung, all das, was er in den 15 Jahren seines Aufenthaltes bei Mathilde von Zahnd entdeckt und aufgeschrieben hat, ist längst in der Welt. Das vermeintlich Normale (in Gestalt der Mathilde von Zahnd) erweist sich als das eigentlich Verrückte. So bleibt den drei Physikern nur die Flucht - in jene Rollen, die sie ins Irrenhaus gebracht haben. Großer, verdienter Beifall.

(hbm)
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