Neuss Problematische Top-Noten im Abi

Neuss · Viele Abiturienten im Rhein-Kreis schließen ihre Schullaufbahn mit einer Eins vor dem Komma ab. Woran liegt das? Die Schulleiter verweisen auf das Bildungssystem. Arbeitgeber und Elternverbände warnen vor einer Entwertung des Abiturs.

Neuss: Problematische Top-Noten im Abi
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Die Schüler freut's, Lehrer und Elternschaft betrachten die Entwicklung mit einer ordentlichen Portion Skepsis. Gemeint ist die "Inflation der Einser-Abis", vor der der deutsche Philologenverband schon seit Einführung des Zentralabiturs warnt, und die jetzt einzusetzen scheint.

Viele weiterführende Schulen im Rhein-Kreis verzeichnen in diesem Jahr eine Flut von Abiturzeugnissen mit einer Eins vor dem Komma. Am Erasmus-Gymnasium in Grevenbroich zum Beispiel haben 26 von 101 Abiturienten ein Einser-Abi "gebaut". Am Pascal- und am Jüchener Gymnasium hat jeder dritte Schüler eine Durchschnittsnote erreicht, die besser ist als 2,0. Und in Korschenbroich können sich nun 35 von 85 Schülern mit Top-Noten an den Hochschulen oder für einen Job bewerben. Die Entwicklung zieht sich durch den gesamten Rhein-Kreis.

Ist das Abitur heute also zu leicht? "Nein", findet der Schulleiter des Erasmus-Gymnasiums Michael Jung. "Schon seit der Einführung des Zentralabiturs im Jahr 2007 ist erkennbar, dass die Noten stetig besser werden." Das Zentralabitur und die Einführung von G8 sollten nicht dazu führen, dass weniger Kinder das Abitur erlangen. "Im Gegenteil: Es ist politischer Auftrag, die Zahl möglichst zu erhöhen."

Was Jung damit meint, weiß Johannes Hamacher, von den frühen 80ern bis 2012 Leiter des Neusser Quirinus-Gymnasiums. "Dass die Noten heute besser sind, liegt an der Internationalisierung des Bildungssystems", sagt er. "Politik und Schulen orientieren sich heute nur noch an EU-Richtlinien." Und das sei ein Problem. Denn stark vereinfacht ausgedrückt sage die EU, dass Schulen und Bildungssysteme, die wenige Abiturienten produzieren, schlecht sind. Und dadurch erhöhe sich natürlich der Druck auf alle Beteiligten, möglichst viele Schüler durchs Abi zu schleusen. "Als ich damals als Lehrer ans Quirinus kam, hätte es eine solche Häufung hervorragender Abi-Noten sicher nicht gegeben", sagt Hamacher. Früher sei die Bewertung noch viel strenger gewesen. Die Schulen müssten derzeit einen schwierigen Balanceakt bewältigen: immer mehr Abiturienten produzieren, dabei aber die Entwertung des Abiturs verhindern.

Dass das auf Dauer gutgehen kann, ist zumindest aus Arbeitgebersicht zweifelhaft. "Wenn ich mit das Notenniveau anschaue, bekomme ich Bauchschmerzen", sagt zum Beispiel Jutta Zülow, Vorsitzende des Allgemeinen Arbeitgeberverbandes Düsseldorf und Umgebung und Mitglied im Hochschulrat der Fachhochschule Niederrhein. "Die steigenden Studienabbrecherzahlen belegen, dass wir den jungen Leuten mit ihren Noten schon heute eine Lernreife vormachen, die sie nicht haben." Das führe zu einer Entwertung des Abiturs und Frustration an den Hochschulen und im Job. "Gute Noten heißen mittlerweile vor allem, dass jemand gut auswendig lernen kann", findet die Neusser Unternehmerin. "Wissen anzuwenden, ist eine ganz andere Sache."

Die Industrie- und Handelskammer geht davon aus, dass Unternehmen in Zukunft noch stärker auf Modelle wie Assessment-Center setzen würden, um sich von der Kompetenz ihrer Bewerber zu überzeugen, sollten die Noten tatsächlich an Aussagekraft verlieren. "Es geht für Unternehmen darum, Können und Wollen zu überprüfen", sagt Petra Pigerl-Radtke, Geschäftsführerin für den Bereich Aus- und Weiterbildung bei der IHK Mittlerer Niederrhein. "Und wenn das mit den Noten nicht mehr geht, dann müssen eben andere Modelle greifen."

Eine Entwertung des Abiturs ist auch eine große Sorge der Landeselternschaft der NRW-Gymnasien. Gleichzeitig warnen die Elternvertreter aber davor, die Debatte unnötig zu befeuern. "Wir halten es bisher nicht für gerechtfertigt, von einer 'Inflation der Einser-Abis' zu sprechen", sagt Vorstandsmitglied Dieter Cohnen. Natürlich wisse man, dass es solche Häufungen gebe. Es gebe aber auch Schulen, an denen keine Anhebung des Notenniveaus feststellbar sei. "Trotzdem ist es wichtig sicherzustellen, dass der Erwerb der Hochschulreife auch in Zukunft einen Bildungsstandard garantiert", sagt Cohnen. "Für Panikmache ist es aber deutlich zu früh."

TIM HARPERS UND REDAKTION GREVENBROICH

(NGZ)
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