Heiner Geissler im Interview "In beiden Kirchen gibt es Betonköpfe"

Neuss · Der ehemalige Bundesminister spricht vor seiner Lesung am Dienstag in der Rathausgalerie über sein neues Buch und die "Stille" der Kirchen.

Herr Geißler, auf Ihrer Website werden Sie unterteilt in Kategorien wie "Der Redner", "Der Autor" und "Der Politiker". Was sind Sie am liebsten?

Heiner Geißler Seit einigen Jahren schreibe ich Bücher, Artikel und halte Lesungen und Reden. Es ist mir aber nach wie vor wichtig, mich politisch zu engagieren. Schließlich habe ich Jahrzehnte lang politische Verantwortung getragen. Was ich am liebsten mache, kann ich nicht sagen. Das Schreiben hält mich jedenfalls geistig fit.

In Kaarst sind Sie am kommenden Dienstag auch als Redner gefragt. Ihr aktuelles Buch wird dort Thema sein. Es heißt "Was müsste Luther heute sagen". Aber was würden Sie Luther heute sagen?

Geißler Dass er sich ganz stark einmischen und keine Diskussion verweigern soll. Auch dass die Spaltung der evangelischen und katholischen Kirche überflüssig ist. Schließlich sind alle wichtigen theologischen Probleme gelöst. Bis auf eine Ausnahme - die Unfehlbarkeit des Papstes. Das wird die katholische Kirche ökumenisch interpretieren müssen.

Was muss in beiden Kirchen denn noch geschehen, damit das Reformationsjubiläum im nächsten Jahr nicht misslingen soll?

Geißler Der Prozess der Einheit müsste beschleunigt werden. In beiden Kirchen gibt es aber Bremser und Betonköpfe, die an der Einheit der Christenheit gar nicht interessiert sind. Die Welt wird nicht beherrscht von den Werten des Evangeliums, sondern von Gewalt, Armut und Vertreibung. Die Christen zählen zwei Milliarden auf der Erde - sind sozusagen der größte Global Player. Wenn sie sich zusammenschlössen und eine einheitliche Konzeption lieferten für eine Wirtschafts- und Friedensordnung auf dieser Erde, dann würden die Menschen auch wieder die Hoffnung bekommen, dass es eine gute Zukunft gibt.

Sie kritisieren vor allem die "Stille" der Kirche und sagen, dass sie sich in aktuelle Themen viel mehr einbringen sollte. Was meinen Sie genau damit?

Geißler Die Kirche darf nicht glauben, dass ihre Botschaft dadurch verbreitet werden kann, dass man von der Kanzel predigt. Sie muss die neuen Medien nutzen, in die Öffentlichkeit gehen, das Demonstrationsrecht für sich in Anspruch nehmen und vor allem Streit anfangen.

Inwiefern sollen Pfarrer Streit anfangen?

Geißler Ja, die Welt kann nur verbessert werden durch Auseinandersetzung mit denjenigen, die eine Politik gegen die Menschen machen. Da ist es in den Kirchen viel zu still. Die katholische Kirche muss sich zudem reformieren und das Zölibat abschaffen, sonst gibt es immer weniger Priester. Es gibt überhaupt keine biblische Begründung dafür, dass Frauen kein kirchliches Amt ausüben dürfen.

Durch Ihre Großmutter hörten Sie als Kind zum ersten Mal von Martin Luther. Warum ist das Interesse auch rund 80 Jahre später nicht abgeflacht?

Geißler Luther war ein großer Theologe, der die Welt verändert hat. Er hat ja nicht nur im Grunde die deutsche Sprache erfunden, sondern auch den christlichen Glauben reformiert.

Seine Rechtfertigungslehre lehnen Sie jedoch entschieden ab. Aus welchen Gründen?

Geißler Sie setzt ja voraus, dass die Menschen belastet sind von der Erbsünde, also mit vielen Schuldgefühlen durchs Leben gehen. Das ist aber ganz und gar nicht die Botschaft des Evangeliums. Mit diesem Irrglauben muss endlich theologisch aufgeräumt werden - das gilt aber auch für die katholische Kirche. Diese Anmaßung der Theologen, wissen zu können, welche Sünden von Gott erlassen werden und welche nicht, war ja Anlass für Luthers 95 Thesen in Wittenberg.

Welches Bild hatte Martin Luther von Gott?

Geißler Er sah Gott nicht als rächenden und schrecklichen, sonders als Gott der Liebe und der Versöhnung - da hat so eine Ablasstheologie keinen Platz.

SIMON JANSSEN FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(NGZ)
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