Neuss Hoffnung

Neuss · Eine Geschichte über Flucht und Ankommen in Deutschland - aus der Sicht einer Puppe.Von Anaïs Muschter (9).

Das Einzige, was uns am Leben hielt, war die Hoffnung, endlich am rettenden Hafen anlegen zu können. Auf einem überfüllten, alten, rostigen, fast nicht mehr betriebsfähigen Haufen Schrott zu sitzen, der sich Frachter nennt, durch den Ozean der Verzweiflung und Angst mit nur einem atomgroßen Fünkchen Hoffnung zu segeln, ist wie auf einem morschen Ast zu sitzen und zu wissen, dass man jeden Moment abstürzen und ins Maul des geifernden Tigers fallen könnte.

Der Anfang von allem waren drei Adjektive: heiß, trocken und staubig.

In der Hütte, in der ich mit Amal lebte, herrschte gerade dicke Luft. "Ich will nicht! Ich will bei dir bleiben!", jammerte Amal. "Du wirst fahren!" Die Stimme ihrer Mutter duldete absolut keinen Widerspruch. Mit traurig gesenktem Kopf trottete Amal zu der Hütte, deren Hauptbestandteile getrockneter Lehm und Plastik waren, hinaus. Sie war so niedergeschlagen, dass sie die Schritte ihrer Mutter kaum vernahm. Ihre Welt war wie ein rissiger Spiegel gerade zu Bruch gegangen. Als ihre Mutter sie leicht an der Schulter berührte, schrak sie zusammen, blieb aber trotzdem nicht stehen, sondern schritt weiter. "Warte bitte", sagte ihre Mutter, doch Amal beherzigte ihre Bitte nicht. Nun rannte ihre Mutter hinter ihr her und hatte sie rasch eingeholt. "Hör mal, ich schicke dich nicht aus freien Stücken weg. Wenn es nach mir ginge, würdest du für immer hier bleiben!" "Das sagst du doch nur so!", schluchzte Amal. "Nein, das tue ich nicht!" "Wenn du es nicht aus freien Stücken tust, warum tust du es dann?" "Weil ich nicht will, dass es dir hier schlecht geht. Du würdest auch Hunger leiden. Das will ich nicht, verstehst du das?" Amal nickte nur. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen verstand sie es gar nicht. Dies musste auch ihre Mutter gemerkt haben, denn als sie sich von Amal abwandte, sagte sie noch: "Wenn du groß bist, wirst du mir noch dafür dankbar sein."

Als der Frachter abfahrbereit war, schloss Amals Mutter sie das letzte Mal ganz fest in die Arme und küsste sie ab. Doch als sich Amal auf dem Schiff befand, sah sie im Sonnenlicht auf dem Gesicht ihrer Mutter Tränen glitzern, und ihr wurde bewusst, dass sie ihre Mutter nur ein einziges Mal hatte weinen sehen, und das war am Totenbett ihres Vaters gewesen. Sie war erst vier Jahre alt gewesen, als ihr Vater starb, aber trotz dessen hatte sie das Gesicht ihrer Mutter immer so klar vor Augen, als hätte sich dieser Anblick in ihre Netzhaut eingebrannt. Sicher war es genauso schwer für ihre Mutter, Abschied von ihr wie von ihrem Mann zu nehmen. Als ihre Mutter aus ihrem Blickfeld verschwunden war, musste Amal bitterlich weinen, weil sie sie zum letzten Mal in ihrem Leben gesehen hatte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich überhaupt nicht richtig von ihr verabschiedet hatte. Sie hatte einfach nur wie ein gefühlloser Klotz dagestanden und alles über sich ergehen lassen. Ich versuchte sie zu trösten.

Nachdem sie sich wieder etwas erholt hatte, begann sie ihre Mitreisenden eingehend zu mustern. Es waren etwa 500 Passagiere, die meisten von ihnen männlich. Vier Jugendliche fielen ihr besonders ins Auge. Sie hatten böse Gesichtszüge und, wie sich in den nächsten Tagen erwies, eine äußerst grobe Art, sich auszudrücken und zu benehmen. Ein Würgegeräusch riss Amal aus ihren Gedanken über die Jugendlichen. Ein paar Passagiere waren zur Reling gestürzt und hatten sich ins Meer erbrochen. Anscheinend waren sie seekrank.

Die Nacht brach herein und die meisten Leute kauerten sich zusammen, um zu schlafen. Die Aufregung des Tages hatte Amal und mich sehr müde gemacht. Wir wurden vom sanften Schaukeln des Schiffes in den Schlaf gewiegt.

Am nächsten Morgen wurden wir von einem unmelodischen Brummen geweckt. Als Amal sich aufrappelte, sah sie, wie ein paar Päckchen ins Meer fielen. Sie waren von einem Hubschrauber aus heruntergeworfen worden. Sofort sprangen mehrere Leute ins Meer, um die Päckchen zu ergattern. Ein Mann hatte es geschafft und wollte nun an Bord klettern. Als er fast oben angekommen war, ertönte aus seinem Mund ein lauter Schmerzensschrei. Einer der unangenehmen Jugendlichen, die Amal am Vortag beobachtet hatte, hatte sich über den Mann gebeugt und dessen Kopf an die Bordwand geschlagen. Bevor der Mann mit einer Platzwunde am Kopf ohnmächtig ins Meer fiel, entriss der Jugendliche ihm das Paket. Gierig riss er es auf. Zum Vorschein kamen Lebensmittel, die er sofort verschlang. Dieses Schauspiel hatte Amal mit einer angsterfüllten Miene und Schrecken beobachtet. Sie drückte mich fest an sich. Der Jugendliche schien mit sich in größter Harmonie zu sein und bereute es sichtlich nicht, den Mann umgebracht zu haben.

Als es dunkel wurde, legten wir uns so gut wie möglich auf das Deck. In den frühen Morgenstunden ließ uns ein lauter Schrei hochfahren. Ich sah gerade noch, wie sich an der Reling von außen eine Hand festklammerte, auf die einer der grausamen Jugendlichen mit der Faust einhieb. Die Hand erschlaffte. Mit einem fürchterlichen Schrei fiel ihr Besitzer ins Meer. Ich sah eine kleine Schachtel mit einer roten Aufschrift in der Innentasche eines der Jugendlichen verschwinden. Amal fing vor an, vor Angst leise zu weinen. Nach einer Weile flüsterte sie mir ins Ohr: "Was ist, wenn die Jugendlichen mir etwas antun? Ich möchte endlich hier weg. Oder sie machen etwas mit dir, dann hätte ich ja hier niemanden mehr. Kannst du verstehen, warum Mama mich weggeschickt hat?"

Um die Mittagszeit holte einer der Jugendlichen das Schächtelchen aus seiner Tasche. Nun konnte ich im Sonnenlicht erkennen, was es beinhaltete. Es waren vier Reihen Tabletten. Der, der die kleine Schachtel in der Hand hatte, drückte sich die erste Reihe in den Mund. Die anderen Jugendlichen nahmen die restlichen Tabletten ein. Wenig später torkelten sie wie Betrunkene durch die Gegend und brüllten lauthals unverständliches Zeug. Zwischendurch lachten sie auch und schienen ihre Sorgen vergessen zu haben. Als es Abend wurde, legten sich alle Passagiere außer den Vieren auf das Deck, um zu schlafen. Manchmal wurde leise aufgeschrien, weil einer von ihnen auf ein Körperteil eines Schlafenden getreten war. Plötzlich rief einer der Jugendlichen: "Eie rieesen Weje lollt lauf juns ju!" Nur Amal schien ihn verstanden zu haben. Sie nahm ein Tau, das die ganze Zeit schon in einer Ecke gelegen hatte und band sich damit am Schiff fest. Mich nahm sie ganz fest in den Arm. Da brach die Welle über uns herein. Alles wurde kalt und schwarz. Nach einigen Sekunden tauchten wir aus der Gischt wieder auf. Der Wind pfiff uns um die Ohren. Es fing an zu regnen, zu blitzen und zu donnern. Der Sturm brach über uns herein wie eine wütende Katze über eine arglose Maus. Wir hatten Todesangst. Die ganze Nacht hindurch bis zum frühen Morgen tobte der Sturm.

Als die Sonne aufging, konnten wir Italien schon sehen. Der Sturm hatte sich gelegt. Außer Amal und mir hatten nur 23 Passagiere überlebt. Alle anderen waren in den gierigen Schlund des Meeres befördert worden. Wir trieben einige Stunden auf dem Meer. Italien kam langsam immer näher.

Als die Sonne träge am Horizont verschwand, durchfuhr das Schiff ein heftiger Ruck. Wir waren auf einer Sandbank aufgelaufen. Nur ein paar hundert Meter vor uns lag die Küste Italiens. Da sahen wir, wie ein Motorboot auf uns zu kam. An der Kleidung erkannten wir, dass der Fahrer einer der Strandbesucher sein musste. Er nahm immer fünf von uns auf seinem Boot mit und brachte uns so alle an den Strand. Wir waren gerettet!

Kurz darauf kamen Leute, die Lebensmittel und Wasser für uns mitbrachten. Amal hatte bei der ganzen Aufregung ihren Hunger vergessen, aber nun aß sie ihre komplette Ration auf und leerte eine Wasserflasche in einem Zug. Ein freundlich aussehendes Ehepaar kam auf uns zugeschritten. Die Frau fragte Amal auf Deutsch: "Bist du Flüchtling?" Doch Amal verstand nichts. Auf einmal wiederholte der Mann die Frage seiner Frau auf Arabisch. Amal nickte. "Sind deine Eltern auch hier?", wollte er wissen. Sie schüttelte den Kopf. Dann sprach der Mann mit seiner Frau. Bittend sah sie ihn an. Er wandte sich wieder Amal zu und fragte: "Wie heißt du denn?" Sie nannte ihm ihren Namen, und er meinte: " Amal - was für ein schöner Name: die Hoffnungsvolle! Hat deine Puppe denn auch einen Namen?" "Ja, sie heißt Amina", antwortete meine beste Freundin. "Die Ehrliche - auch ein sehr hübscher Name. Ich weiß, dass es keine Entscheidung ist, die man auf die Schnelle trifft, aber ich frage dich trotzdem: Möchtest du bei uns wohnen?" Und Amal beantwortete seine Frage mit einem beherzten: "Ja!!!"

Ein Jahr ist nun vergangen, und Amal und ich leben zusammen mit Franziska und Klaus, so heißt das Ehepaar nämlich, in Deutschland. Wir sind alle sehr glücklich! Amal geht hier zur Schule und kann mittlerweile Deutsch sprechen. Franziska und Klaus helfen ihr bei allem. Sie hat sehr gute Freunde gefunden, aber ich bin trotzdem noch immer ihre beste Freundin.

(NGZ)
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