Neuss Hamlet lebt in der Favela

Neuss · Mit ihrer Interpretation des Shakespeare-Dramas "Hamlet" lieferte die brasilianische Truppe Cia Completa Mente Solta einen ersten Höhepunkt beim Festival im Globe. Trotz defekter Technik.

 In der Favela, zwischen den Straßengangstern und Dealern, wird auch Hamlet zu einem Opfer. Aber ist er es nicht sowieso schon?

In der Favela, zwischen den Straßengangstern und Dealern, wird auch Hamlet zu einem Opfer. Aber ist er es nicht sowieso schon?

Foto: Christoph Krey

Der Name der Truppe ist Programm. "Mit völlig freiem Geist" bedeutet der Name Cia Completa Mente Solta, den sich die Schauspieler um Márcio Januário aus Rio de Janeiro gegeben haben. Und so spielen sie auch. Was aber keineswegs heißt, dass sie auf die ordnende Hand eines Regisseurs verzichten. Mit einem "Hamlet" in portugiesischer Sprache sind sie ins Globe gekommen. Für die meisten Zuschauer sprachlich kaum verständlich, aber dafür mit einem hinreißenden Spiel, das von Januário als Regisseur behutsam gelenkt wird.

Dem begeisterten Beifall und Trampeln des Publikums können die fünf Schauspieler nach rund eineinviertel Stunden Spiel vor lauter Rührung und Erstaunen kaum standhalten. Es ist, als ob sie erst erwachen müssten, zurückkehren in die Realität, um zu erkennen, wie sehr sie ihre Zuschauer mitgenommen haben. Obwohl doch die Bedingungen nicht einfach waren.

Denn dieser "Hamlet" spielt auf drei Ebenen. Im dänischen Königreich, in einer Favela von Rio de Janeiro und in einem Probenraum einer Schauspielertruppe, die "Hamlet" aufführen will. Die Verknüpfung funktioniert bestens - so lange die Technik für die englischen Übertitel mitspielt. Da sie in der zweiten Hälfte allerdings ihren Geist aufgibt, braucht es Fantasie, um dann jene Szenen zu entschlüsseln, die in der Favela oder im Probenraum spielen. Eigentlich ein Desaster für eine Produktion, die das Machtspezifische des Stücks mit der Drogen- und Korruptionsmentalität der eigenen Wirklichkeit verbinden will und als drittes Element die Frage thematisiert: Kann man angesichts dieser Welt "Hamlet" überhaupt noch zeigen? Aber wie sagt es Regisseur Márcio Januário doch zum Schluss: "Wir lieben Shakespeare, und das Spiel ist unser Leben." Das merkt man in jeder Minute der Aufführung.

Und deswegen ist es auch kein Desaster, als die Technik ausfällt, mancher Witz und Sarkasmus nur an der Reaktion der portugiesisch sprechenden Zuschauer erkennbar ist. Allein das Spiel von Felipe Paiva, Hugo Germano, Márcio Januário, Matheus Costa und Yorran den Paula reicht.

Blitzschnell springen sie von einer Ebene auf die andere. Wechseln die Rollen, brauchen dafür kein Bühnenbild, sondern nur ein paar schlichte Requisiten. Mit Gesten, mit Mimik und mit dem Ton ihrer Stimme machen sie klar, wo und wer sie gerade sind. Straßenräuber in der Favela, Damen der Gesellschaft oder eben Mitglieder des königlichen Hofs im dänischen Elsinore (in englisch oft gebräuchlicher Ausdruck für Helsingör). Fast mühelos verbinden sich Temperament und pointiertes Spiel. Vor allem bei Hugo Germano, ein beeindruckender Hamlet. Seine Auseinandersetzung mit seiner Mutter Gertrude (Januário) etwa gerät zu einer Gänsehaut-Szene. Dass man dabei kein Wort versteht, macht gar nichts. Seine Qual, seine Wut wie auch Gertrudes Verzweiflung übertragen sich fast körperlich.

Die Truppe arbeitet mit den Schlüsselszenen des Shakespeare-Stücks. Hamlets Monolog ("Sein oder Nichtsein"), Ophelias Verzweiflung, Hamlet und Gertudes Dialog über ihre Beziehung, bettet sie dennoch in den Stücke-Kontext ein, aber öffnet auch den Blick auf das große Ganze. Machtstrukturen und -streben aus "Hamlet" bestimmen auch das wirkliche Leben. Selbst unter Menschen, die sich nahestehen. Eine allzu pessimistische Sicht auf die Dinge? Mag sein. Aber man kann dagegen anspielen. Wenn man von völlig freiem Geist ist.

(NGZ)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort