Neuss Fremd im eigenen Land

Neuss · Mario Holetzeck hat für das RLT Shakespeares "Othello" inszeniert und die Geschichte auf den Konflikt konzentriert, Fremdes nicht akzeptieren zu können.

 Zwei Außenseiter: Othello (Andreas Spaniol) und Jago (Michael Meichßner).

Zwei Außenseiter: Othello (Andreas Spaniol) und Jago (Michael Meichßner).

Foto: Björn Hickmann:

Die ersten Minuten muss man einfach durchstehen. Mit der bangen Frage, ob in dieser Tragödie wirklich soviel Plumpheit steckt oder nur der Regisseur selbige darin sieht. Denn ein - zwar mit einer hübschen venezianischen Maske angetaner - Narr kämpft dermaßen übertrieben mit dem roten Vorhang, dass die Grenze der Peinlichkeit schon in Sicht kommt. Aber zum Glück auch nicht mehr als das. Andere Maskenträger stürmen den Publikumssaal, lachen, jagen einander, sind ausgelassen und fröhlich und damit das krasse Gegenteil des Duos, das nun - im variablen und zurückhaltenden Bühnenbild von Juan Léon und angemessenen Kostümen von Alide Büld - die Richtung vorgibt.

"Othello" heißt das Stück, aber Regisseur Mario Holetzeck hätte es "Jago" nennen können. Denn der große Strippenzieher ist die Hauptperson in seiner Inszenierung am RLT und wird von Michael Meichßner grandios gespielt. Er ist eine Symbiose verschiedener Shakespeare-Figuren, hat was von der bitteren Klugheit eines Narren, dem Despotismus eines Richard, der Verbohrtheit eines Shylock und der Überheblichkeit eines Oberon.

Sein Sparingspartner ist Roderigo, ein bisschen dumm, aber verliebt in Desdemona und bereit, alles zu tun, um sie von ihrem frisch angetrauten Mann Othello loszueisen. Ein willfähriger Helfer und mit Stefan Schleue kongenial besetzt. Dass in den Szenen mit den beiden so viel Komik steckt, ist die eine Überraschung der Inszenierung - und die andere, dass gerade das Komische zwingend in die Katastrophe führt.

Holetzeck hat das Figurentableau auf sechs Personen reduziert. Es gibt eine Desdemona (Juliane Pempelfort), einen Othello (Andreas Spaniol), einen Dogen (Joachim Berger), einen Cassio (Philipp Alfons Heitmann), einen Jago und einen Roderigo. Mehr nicht. Und das reicht. Denn Holetzeck konzentriert sich auf den Konflikt zwischen einem Außenseiter und der Gesellschaft, kürzt wenig an den Szenen, aber verzichtet auf jedes Beiwerk, das den Fokus verschieben könnte. In der Übersetzung von Marius von Mayenburg ist Othello der Freak, der Abschaum der Gesellschaft, den man leider braucht, um Kriege zu gewinnen. Und Othello - in diesem Fall ein Albino, ein "weißer Neger", wie ihn der Doge verächtlich tituliert - weiß, dass er von der Macht benutzt wird und um seinen Status, aber schreit der Welt auch ein trotziges "Ich bin ich, findet euch damit ab" entgegen. Dass erst die Liebe der Dogen-Tochter ihn weicher macht, passt ebenso zu seiner Charakterzeichnung wie seine zunehmende Unsicherheit durch die Einflüsterungen Jagos über den angeblichen Treuebruch von Desdemona. Denn wie soll ein Mensch, der sich nie anerkannt fühlt, glauben, dass es da jemanden gibt, der vorbehaltlos zu ihm steht?

Doch nicht nur mit ihm hat Jago leichtes Spiel, jeder fällt auf ihn herein. Und so wie Meichßner ihn gibt, ist das nicht verwunderlich. Er hat die Macht und jongliert mit ihr, ob als Kriecher oder Fiesling, lässt heraus, was wohl in vielen Menschen steckt, aber lieber unter der Decke gehalten wird. Denn wer mag schon die Erkenntnis, dass da Dinge in ihm schlummern, die ihm eigentlich fremd sein sollten? Erst als Othello tot ist, gleitet Jago alles aus den Händen. Er rast - weil er weiß, dass ihm nichts mehr bleibt.

Ein heftiger und nachhaltiger Theaterabend, live am Klavier passend von Johannes Still unterstützt. Da darf Holetzeck auch gern auf den allzu demonstrativen Einsatz des Saallichts verzichten.

(hbm)
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