Neuss Experten machen Armut zum Thema

Neuss · Beim Augustinus-Forum wurde die finanzielle Lage der Deutschen diskutiert.

 Diskutierten in der Mehrzweckhalle des St.-Alexius- und St.-Josef-Krankenhauses (v.l.): Berthold Bonekamp, Wim Kösters, Judith Wolf, Georg Cremer, Michael Schlagheck, Schwester Praxedis und Patrick Sachweh.

Diskutierten in der Mehrzweckhalle des St.-Alexius- und St.-Josef-Krankenhauses (v.l.): Berthold Bonekamp, Wim Kösters, Judith Wolf, Georg Cremer, Michael Schlagheck, Schwester Praxedis und Patrick Sachweh.

Foto: Salz

"Wie arm ist Deutschland wirklich?", lautete das Thema des Augustinus-Forums in der Mehrzweckhalle des St.-Alexius- und St.-Josef-Krankenhauses. Wie immer war das Podium prominent besetzt, wie immer bei solchen Veranstaltungen gab es für die rund 500 Zuhörer viel Erhellendes. Was fehlte, war das Aufeinanderprallen extrem unterschiedlicher Auffassungen.

Georg Cremer (65), Volkswirt und Buchautor ("Armut in Deutschland"), der bis vor wenigen Wochen Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes war, redete gleich zu Beginn der Diskussion Klartext: "Die Armut in Deutschland hat in den letzten Jahren bei Menschen ohne Migrationshintergrund nicht zugenommen. 15,7 Prozent der Deutschen gelten als arm, weil sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Das sind aber nicht zwölf Millionen Flaschensammler", gab Cremer zu verstehen.

Zu den Menschen mit unterdurchschnittlichem Einkommen gehörten auch Auszubildende und Studenten. Cremer räumte mit zwei Vorurteilen auf: "Es stimmt einfach nicht, dass die Armut in Deutschland so groß wie nie zuvor ist und dass die Situation immer schlimmer wird." Patrick Sachweh, Akademischer Rat auf Zeit an der Uni Frankfurt und Leiter des Projekts "Ungleichheitsdeutungen und Gerechtigkeitsorientierungen in Deutschland" beklagte: "Mängellagen verstetigen und verfestigen sich. Gefährdet sind vor allem Menschen mit geringer schulischer beziehungsweise beruflicher Qualifikation, Alleinerziehende, aber auch Paare mit mehr als drei Kindern und Migranten. "Diese Personengruppen gehen nicht wählen - mit der Folge, dass die Politiker ihnen gegenüber nicht verpflichtet fühlen", sagte Wim Kösters. Der 74 Jahre alte Volkswirt und frühere Professor stellte klar, dass die Globalisierung "ganz klar mitgeholfen hat, die Armut unter der Weltbevölkerung zu reduzieren".

Sachweh beklagte die "Verinselung von Lebenswelten" - Arme blieben meistens unter sich: "Die sozialen Räume, wo alle Schichten zusammenkommen, werden kleiner." - "Könnten wir über das Armutsproblem auch ein Demokratieproblem bekommen?", wollte die Moderatorin Judith Wolf wissen. Die 48-Jährige ist stellvertretende Direktorin der Katholischen Akademie "Die Wolfsburg". "Ja, die Gefahr besteht", bekannte Sachweh. "Die Armen bedürfen besonderer Zuwendung", ist sich Cremer sicher.

Weniger sicher ist er, ob die Mittelschicht das hinnähme. Der Hartz-IV-Satz sei "auf Kante genäht", aber es müssten Anreize bestehen bleiben, eine Arbeit anzunehmen. In der Digitalisierung sieht er keine Gefahr für die Arbeitsplätze. Cremer legt Wert darauf, dass sich Arbeit lohnen muss, und zwar auch im Hinblick auf die Versorgung im Alter.

Bildung wurde immer wieder als Mittel gegen Armut genannt. Ein Zuhörer bezweifelte den Bildungswillen in Familien, die in der dritten Generation Sozialhilfe beziehungsweise Hartz-IV bekommen. Sachweh sprach in diesem Zusammenhang von "erlernter Hilflosigkeit".

(NGZ)
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