Schwerpunkt 40 Jahre Pierburg-Streik "Eine Mark mehr" – der Aufstand der Frauen

Neuss · Der Streik der Pierburg-Arbeiterinnen im August 1973 war einer der ersten Arbeitskämpfe für mehr Lohngerechtigkeit von Frauen.

 Fröhlich schauen die Frauen in die Kamera, sie skandieren ihre Forderung "eine Mark mehr". Das Bild erscheint am 15. August in der Neuß-Grevenbroicher Zeitung. Doch der Schein trügt: Die Arbeiterinnen müssen Polizeigewalt ertragen.

Fröhlich schauen die Frauen in die Kamera, sie skandieren ihre Forderung "eine Mark mehr". Das Bild erscheint am 15. August in der Neuß-Grevenbroicher Zeitung. Doch der Schein trügt: Die Arbeiterinnen müssen Polizeigewalt ertragen.

Foto: NGZ

Rhein-Kreis Es ist ein Streik, der in die Geschichte eingegangen ist. Dass sich Frauen, Zuwanderinnen aus Südeuropa, für ihre Rechte einsetzen, lautstark "eine Mark mehr" fordern: das hatte es in der Bundesrepublik bis zum August 1973 nicht gegeben. Dann kam es zum Aufstand bei Pierburg – und was als Streik einiger Frauen begann, hatte Auswirkungen nicht nur auf das Neusser Werk selbst, sondern auch auf andere Betriebe in NRW, die von einer plötzlichen Streikwelle heimgesucht wurden.

"Noch heute bewundere ich die kämpfenden Frauen und ihren solidarischen Umgang miteinander", sagt Dieter Braeg. Er war damals stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, erlebte als Zeitzeuge mit, wie sich schon nach kurzer Zeit die Gewerkschaft mit dem "Wilden Streik" der Frauen solidarisierte. Die Situation von damals hat Braeg in einem Buch beschrieben. Anschaulich erzählt er darin von der Situation der Arbeiterinnen, die bei dem Automobilzulieferer Pierburg am Fließband standen, im Schichtdienst Vergaser zusammenbauten, kaum Pausen hatten und als "Gastarbeiterinnen" von den Vorarbeitern nicht nur als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, sondern von Pierburg auch entsprechend bezahlt wurden: Zugeteilt waren die die Frauen der "Leichtlohngruppe 2", sie arbeiten für einen Stundenlohn für 4,70 D-Mark. Männer gab es in dieser Lohngruppe – übrigens auch in der darüber, nicht.

Dieter Braeg hat in dem Buch seine Beobachtungen des achttägigen Arbeitskampfes, der am 14. August 1973 beginnt, aufgeschrieben, und er lässt als Herausgeber auch andere Zeitzeugen und Autoren zu Wort kommen. So entsteht das Gesamtbild eines Streiks, bei dem die Frauen massiver Polizeigewalt gegenüberstehen, geprügelt und verhört werden. Und gleichzeitig aus der Belegschaft eine immer stärkere Unterstützung erfahren, die schlussendlich dazu führt, dass ihre Lohnforderungen erfüllt werden. Braeg schreibt, wie sich die Arbeiter abends in Neusser Kneipen treffen, wie die Diskussion verläuft, als ein "Pierburger" kritisiert, "warum die Paselacken und Weiber überhaupt streiken". Die dürften das gar nicht, sollten vielmehr froh sein, in Deutschland Arbeit gefunden zu haben. Da springt eine Frau auf: "Du Arbeiter, ich Arbeiter – warum nicht Solidarität?" fragt sie in den Raum. Die anderen Kneipengänger unterstützen sie: "Die malochen genauso wie wir", sind sie sich einig.

Braeg hat die Dialoge aus der Erinnerung aufgeschrieben – er selbst war damals schnell überzeugt: Dieser Streik ist etwas "ganz Großes". Der Gewerkschafter arbeitete damals mit Filmemachern zusammen. Der Dokumentarfilm von damals liegt Braegs Buch bei. "Wir wollten diesen Arbeitskampf dokumentieren", sagt der 73-Jährige rückblickend. "Denn Arbeitskämpfe von Frauen sind in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung sehr selten."

Den Film zeigt Braeg mittlerweile bei Vorträgen, auch in Neuss ist eine solche Veranstaltung geplant, organisiert von der IG Metall (siehe Info-Box). Denn die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen haben die Arbeitskämpfe von damals nicht beigelegt: "Noch immer verdienen Frauen europaweit 23 Prozent weniger als Männer", sagt Nihat Öztürk, Geschäftsführer der IG Metall Düsseldorf-Neuss. Der Pierburg-Streik zeige in der Rückschau, was Frauen bewirken können, wenn sie sich solidarisieren. "Ich wünschte, dass Frauen heute so kämpferisch wären", sagt Öztürk über den Streik, der in den Anfängen nicht gewerkschaftlich organisiert war und daher vor 40 Jahren auch Kritik aus dem eigenen Reihen hervorgerufen hatte. "In der historischen Betrachtung lässt sich der Streik heute ganz anders würdigen", sagt Öztürk dazu. So sieht es übrigens auch die Firma Pierburg. Als "einzigartigen Ausstand" beschreibt der Automobilzulieferer den Streik in seiner Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Pierburg-Konzerns.

(NGZ)
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