Neuss Eine Geschichte über Verlust und Schuld

Neuss · Die Niederländerin Wytske Versteeg stellt beim Literarischen Sommer ihr Buch "Boy" vor.

 Wytske Versteeg stellt ihren Roman "Boy" vor.

Wytske Versteeg stellt ihren Roman "Boy" vor.

Foto: Eline Spek

Es ist das Schlimmste, was Eltern passieren kann: Das Kind stirbt. Boy ist 15, als er verschwindet. Es dauert Wochen, bis die Polizei ihn findet. Tot, angespült am Strand, offensichtlich hat er sich selbst getötet, sagt die Polizei den Eltern. Warum ? Keiner weiß es oder will es wissen. Seiner Mutter aber lässt die Frage keine Ruhe, sie setzt zu einer Suche an, die nach außen gerichtet ist, aber letzten Endes auch zu sich selbst führt. Wytske Versteeg hat mit ihrem zweiten Roman "Boy" ein trauriges Buch geschrieben. Eines, das von Schuld handelt, von Mobbing, von Rassismus, vom Nicht-zuhören-können und Nicht-sehen-wollen. Eines, das von einer Katastrophe erzählt, die nie wieder kleiner wird im eigenen Leben.

Das macht die 1983 geborene niederländische Autorin auf eine so einfühlsame und nachdrückliche Weise, dass beim Lesen fast automatisch der Gedanke aufkommt: Hat sie es selbst erlebt? Das dürfte auch wohl eine der Fragen sein, die Dienstag Abend fallen wird, wenn die Autorin, die eigentlich Politikwissenschaftlerin und Essayistin ist, beim Literarischen Sommer in der Stadtbibliothek liest.

Ihre Hauptfigur ist Psychologin. Mutter wird sie, als sie und ihr Mann in Afrika einen Jungen adoptieren, der seine eigene Mutter getötet habe, wie eine der Schwestern im Waisenhaus ihnen zuraunt - was nichts anderes bedeutet, als dass die leibliche Mutter bei der Geburt gestorben ist. Als ob das ein Omen ist.

Der neuen Mutter fällt das auch erst wieder im Nachdenken über Boy ein. Warum sie (weniger ihr Mann) nicht wirklich an ihn herankam, warum Boy nie etwas erzählt hat vom Mobbing seiner Schulkameraden. Und man weiß als Leser nicht: Wen soll man eigentlich mehr bedauern - diesen kleinen Jungen, der nie richtig Fuß fassen kann in dem fremden Kulturkreis oder diese Mutter, die ihrem Kind fremd bleibt und der das Kind fremd bleibt? Es spricht Bände, dass Versteeg dem Sohn als Namen nur eine Bezeichnung gibt (Boy = Junge), die Mutter überhaupt keinen hat.

Doch je weniger diese sich mit dem Tod des Sohnes abfinden kann, um so mehr gibt sie von sich preis. Das geht bis zum Aufspüren von Boys Theaterlehrerin Hannah, die nach dem Tod des Jungen verschwunden ist. Vier Jahre später findet die Mutter sie in Bulgarien - eine Aussteigerin, die nicht weniger mit sich selbst zu kämpfen hat als Boys Mutter. Aber ist die junge Frau wirklich schuld am Tod ihres Schülers?

Versteeg schürt die Spannung, indem sie die Erzählperspektive plötzlich wechselt, abbricht, wenn eine ihrer Figuren kurz vor der Offenbarung zu stehen scheint und bis zum Schluss offen lässt, ob die Mutter ihren Plan durchzieht, Hannah zu töten. Über die Begegnung der beiden Frauen in einem fremden, abgekapselten Raum entsteht ein neues Bild von Boy. Die Lehrerin erzählt von ihrem Schüler auf eine Weise, die den Leser die Welt aus seiner Perspektive sehen lässt.

Diese verschiedenen Augen-Blicke auf Boy und das Leben machen das Buch zu einem bewegenden Roman, der nicht loslässt und Fragen stellt: Wie bist Du zu den anderen? Was siehst du und wie sieht die Welt Dich? Was kann man von einem Buch mehr verlangen, als dass es Fragen über das Selbst aufwirft.

Info Dienstag, 2. August, 19.30 Uhr, Neumarkt 10, zehn Euro. Wytske Versteeg: Boy, Wagenbach-Verlag, , 19, 90 Euro

(hbm)
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