Neuss Deutschland für Anfänger

Neuss · Ein kleiner, weicher Lederball fliegt durchs Klassenzimmer - mal zaghaft, mal etwas temperamentvoller. "Mein Name ist Anyu. Ich bin elf Jahre alt. Wie heißt du? Wie alt bist du?", sagt der chinesische Junge, der seit Februar in Neuss lebt, und schickt das Bällchen weiter auf die Reise.

Auch Nour (13) und Jamal (14) beteiligen sich an dem Vorstellungsspiel und erledigen die Aufgabe prima. Dabei besuchen die syrischen Geschwister die so genannte Seiteneinsteiger-Klasse am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium erst seit wenigen Tagen. Hier lernen sie zusammen mit derzeit 16 Klassenkameraden zwischen elf und 18 Jahren Deutsch, darunter auch Flüchtlingskinder. Allein 20 Wochenstunden Sprachunterricht stehen auf dem Stundenplan, außerdem Mathematik beziehungsweise naturwissenschaftlicher Unterricht und Landeskunde, in der den Kindern und Jugendlichen deutsche Geschichte und Politik ebenso wie Kultur und Werte nahegebracht werden. Aber auch Sport und Musik kommen nicht zu kurz. "Es war uns wichtig, dass die Schüler nicht ausschließlich konzentriert Deutsch pauken, sondern auch etwas Bewegung und Spaß haben", sagt Schuldirektor Gerhard Kath.

Seit Mai gibt es die Seiteneinsteiger-Klasse am "Humboldt". "Es war ja schon seit einiger Zeit abzusehen, dass das Angebot in Neuss vergrößert werden musste", sagt Kath. Die Schule habe sich freiwillig gemeldet und von der Bezirksregierung für diese Aufgabe eine zusätzliche Lehrerstelle erhalten. Zusammen mit Kollegin Andrea Breitenfeld, die das Zertifikat "Deutsch als Fremdsprache" besitzt, unterrichtet Sonja Sandt die ungewöhnliche Klasse, in der gut ein Dutzend Nationen vertreten sind. Darunter Kinder von Managern und Ingenieuren, die nur für einige Jahre in Deutschland arbeiten, und zwei Austauschschüler.

Im Klassenzimmer sind Wochentage und Wetterlage als Thema durch, die Vorstellungsrunde beendet. Jetzt sammeln alle zusammen Wörter für unterschiedliche Räume eines Hauses oder einer Wohnung. Eifrig beteiligen sich die Schüler, nennen Zimmer und ihre Funktionen. Schallendes Gelächter bricht aus, als auf die Frage "Was macht man auf einem Balkon?" die Antwort kommt: "Rauchen".

Nach der gemeinsamen Lerneinheit geht der Unterricht individueller weiter. Die Gruppe ist in drei Sprachniveaus unterteilt, für die unterschiedliche Lehrbücher zur Verfügung stehen. Im Rahmen des Projektes "Texthelden" liest die Lerngruppe außerdem sechs Wochen lang täglich die NGZ, beschäftigt sich mit dem Thema Zeitung und nutzt die Beiträge für den Grammatik-Unterricht. "Wir machen auch praktische Übungen, gehen zusammen einkaufen und haben den Kinderbauernhof besucht", berichtet Sonja Sandt. "Grundsätzlich versuchen wir für Abwechslung zu sorgen", ergänzt Andrea Breitenfeld, "wir lesen, spielen, konjugieren, beziehen auch die Sprache der Herkunftsländer ein." Was fällt den jungen Leuten beim Deutsch-Lernen besonders schwer? "Die Artikel", kommt es wie aus der Pistole geschossen. Und welche Unterschiede zwischen Deutschland und ihrer Heimat sind besonders auffällig? "In Russland gibt es eine Schule für alle", sagt die 16-jährige Mariia. "Die Städte hier sind viel kleiner als in China", findet Anyu.

Flüchtlingskinder machen zur Zeit ein Drittel der Seiteneinsteiger-Klasse aus. Gerhard Kath geht davon aus, dass bereits nach den Herbstferien weitere Kinder kommen, deren Familien Neuss dauerhaft als Wohnort zugewiesen wurde. Mindestens sechs Monate, maximal aber zwei Jahre werden die Mädchen und Jungen dann in der Seiteneinsteiger-Klasse unterrichtet. "Wir werden im Januar intensiv hinschauen, wie gut die Sprachkenntnisse bei den einzelnen sind, und uns dann über einen Wechsel in Regelklassen unterhalten", erklärt Kath. Er freut sich, dass an seiner Schule - neben den Schülerpaten für die Seiteneinsteiger - ein weiteres Patensystem im Aufbau ist: Zwei pensionierte Kollegen und die Mutter eines Gymnasiasten wollen sich künftig einmal wöchentlich nachmittags mit einem der Seiteneinsteiger einzeln beschäftigen.

(NGZ)
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