Neuss Der Mann, der das Zitherspiel neu erfand

Neuss · Hesen Kanjo beherrscht sein Instrument wie kein Zweiter. Nebenbei muss der Neusser jedoch als Küchenhilfe arbeiten.

Neuss: Der Mann, der das Zitherspiel neu erfand
Foto: Woitschützke Andreas

Als Hesen Kanjo sein Instrument für einen kurzen Moment auf dem großen flachen Stein im Foyer des St.-Augustinus-Memory-Zentrums ablegt, verzieht er sein Gesicht, als hätte er körperliche Schmerzen. Wie ein rohes Ei behandelt er sein prunkvoll verziertes Kanun - eine orientalische Kastenzither. Nicht auszudenken, was passierte, würde das Holz des Tausende Euro teuren Instruments auch nur einen Kratzer abbekommen. "Es ist wie mein Herz", sagt Kanjo.

Er und sein Kanun. Das passt einfach. Acht bis neun Stunden verbringt er täglich mit ihm, um zu üben. Nachdenken muss er dabei schon lange nicht mehr. Wie in Trance schweben seine Finger über die Saiten. Der 42-Jährige beherrscht das trapezförmige Instrument wie kein zweiter Kanun-Spieler. Im Laufe der Jahre hat er eine ganz eigene Spielweise entwickelt, die er als "Kanjostil" bezeichnet. Statt wie üblich mit zwei Fingern, zupft er die Saiten dabei mit allen zehn. "Dann klingt es wie eine Harfe", schwärmt er.

Es könnte alles so leicht sein für den Herzblutmusiker. Nur all zu gerne würde er von seiner Leidenschaft leben können. Das ist sein Traum, an den er sich von Jahr zu Jahr herantastet. 2016 läuft bisher ganz nach Plan. Viele Konzertanfragen aus ganz Deutschland erreichen den 42-Jährigen. Noch kann der Kurde, der in Aleppo (Syrien) geboren wurde, aber nicht ausschließlich von seinen orientalischen Klängen leben. So verbringt Kanjo zusätzlich knapp 40 Stunden monatlich in der Küche des St.-Augustinus-Memory-Zentrums, um zu spülen. "So kann ich unter anderem Nebenkosten bezahlen", sagt er. Doch auch seine musikalischen Fähigkeiten brachte er bereits an der Steinhausstraße 40 ein - so spielte Kanjo kürzlich gemeinsam mit dem "Jedermannchor" in der Caféteria des Memory-Zentrums - im Rahmen des Projekts "Musik trifft Demenz", wo er unter anderem das Lied "Tochter Zion" zum Besten gab. Er beherrscht also nicht nur die orientalische Klaviatur auf seinem Instrument. Sogar das Quirinus-Lied ist Teil seines umfangreichen Repertoires. "Ich würde gerne weiter für Demenzkranke spielen", sagt Kanjo, der im Alter von elf Jahren zunächst Akkordeon- und später Saz-Unterricht nahm - ein gitarrenähnliches orientalisches Instrument. 1996 wanderte er nach Deutschland aus, war mit seinem Kanun aber weiterhin in der ganzen Welt unterwegs: "Meine Neusser Wohnung hatte ich in dieser Zeit quasi nur, um zu schlafen." Meist war er mit dem kurdischen Fernsehen auf Tour. Schmunzelnd erinnert sich Kanjo, wie die Organisation damals vonstatten ging. Wenn das Telefon klingelte, wusste er, dass er schon mal den großen Koffer bereitstellen konnte. "Oft ging es dann schon am nächsten Tag auf Reisen", sagt Kanjo, der 2008 in Neuss "wirklich sesshaft" wurde, wie er sagt und auch einen Deutschkursus besuchte. Hierzulande werde die Organisation von Konzerten jedoch viel bürokratischer gehandhabt als in anderen Ländern: "Am Anfang war es sehr schwer, Kontakt zu Organisatoren herzustellen. Ich habe aber viel Unterstützung erhalten." Auf Veranstalter zugehen muss er nur noch selten - das läuft mittlerweile umgekehrt.

Kanjo gibt zu, dass der Druck, immer neue Aufträge zu erhalten, an seinen Nerven zehrt. "Ich habe den Eindruck, dass sich der Stress in meiner Musik widerspiegelt. Entspannt spiele ich jedenfalls besser", sagt der 42-Jährige schmunzelnd.

Info Ein Video, in dem Hesen Kanjo das Quirinus-Lied spielt, gibt es unter www.ngz-online.de zu sehen.

(NGZ)
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