Neuss Der Letzte in der Schraubenfabrik

Neuss · Der Automobilzulieferer Whitesell ist pleite und hat nur noch sechs Mitarbeiter. Rolf Weitz wickelt den Verkauf der Maschinen ab - und seine eigene Karriere. Ende Juni ist auch für ihn Schicht. Die Zukunft der Liegenschaft ist ungeklärt.

 Rolf Weitz war 45 Jahre in der Neusser Schraubenfabrik beschäftigt, zuletzt als Produktionsleiter. Nun ist der 62-Jährige der Letzte in einer Fertigung, die nichts mehr produziert. "Totengräber" nennt er sich deshalb.

Rolf Weitz war 45 Jahre in der Neusser Schraubenfabrik beschäftigt, zuletzt als Produktionsleiter. Nun ist der 62-Jährige der Letzte in einer Fertigung, die nichts mehr produziert. "Totengräber" nennt er sich deshalb.

Foto: Lothar Berns

Rolf Weitz' letzter Auftrag fährt jetzt in gepanzerten Limousinen. 2000 Spezialschrauben, entwickelt für BMW, um das schwere Getriebe von Luxuskarossen zu halten. Schlossermeister Weitz hat sie mit nur einem Kollegen produziert, dem letzten, der außer ihm geblieben ist. Als die Schrauben aus der Maschine fielen, wussten sie schon, dass es vorbei ist. Endgültig.

Im September 2015 verkündet der Insolvenzverwalter die Schließung der Neusser Schraubenfabrik. 2500 Mitarbeiter hat sie früher einmal gehabt. Mit dem letzten Auftrag verliert Produktionsleiter Rolf Weitz auch die letzten Mitarbeiter. Deshalb muss er am Ende selbst nochmal ran. Deshalb wickelt er jetzt 140 Jahre rheinische Industriegeschichte ab - und kämpft um einen würdigen Abschied.

Weitz präsentiert nun die Maschinen, wenn potenzielle Käufer kommen, macht sie fertig, wenn sie übergeben werden. Der Insolvenzverwalter will Gelände und Geräte der zuletzt unter Whitesell firmierenden Fabrik verkaufen. Weitz sieht sich jetzt nicht mehr als Produktionsleiter. Er hat viele Beschreibungen für seine Arbeit: Aufräumkommando, Alleinunterhalter, Totengräber. Auch damit ist bald Schluss. Weitz ist 62 Jahre alt. Auf ihn wartet nur noch die Rente.

Heute macht sich Weitz, großgewachsen, runde Brille, auf einen Rundgang durch das, was einmal sein Berufsleben war. Er beginnt im Herz der Firma, der Produktion. Nachdenklich lässt er seinen Blick durch die große Halle schweifen, als laufe die Produktion wieder an. Es ist still, aber in seinem Kopf kann er die Maschinen noch hören.

Weitz steht breitbeinig, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, so als wolle er zeigen, wie tief er an diesem Ort verwurzelt ist, nach 45 Jahren im Betrieb. Er arbeite bei "Bauer und Schaurte", sagt Weitz bis heute, und die drei Wörter verschmelzen in seinem Mund zu einem Namen. "BauerunSchaurte", ein Wort, so sagten sie alle hier, früher aber mit mehr Stolz in der Stimme. 1876 als Familienunternehmen gegründet, Kriegslieferant, Wirtschaftswunderbetrieb, internationaler Automobilzulieferer. Das Ende kam mit den Investoren und überzogenen Gewinnerwartungen.

Auf dem blauen Kittel, den Weitz sich über Hemd und Pullunder geworfen hat, steht "Textron". Von 1996 bis 2006 hieß die Firma so. Seitdem hat der Eigentümer noch dreimal gewechselt, Insolvenzverfahren inklusive. "Das bleibt nicht nur in den Kleidern stecken." Für neue Kittel fehlte das Geld.

"Was könnte man hier noch verdienen", sagt Weitz und schüttelt den Kopf. Er kann viel darüber erzählen, wie man einen gesunden Betrieb zerstört. Wie man zuerst die Kunden vergrault, danach die Mitarbeiter. Oft lacht er kurz am Ende eines Satzes, sein gesamtes Gesicht wird breiter. Es ist das Lachen eines Mannes, der sich seinen Humor nicht nehmen lässt, der lieber innerlich trauert.

In der Fertigungshalle summen nur die Heizstrahler oben in der Stahlkonstruktion, irgendwo gurrt eine Taube. Die Morgensonne lässt die blauweißen Maschinen schimmern. Zarter Ölgeruch. "Kalt, ungemütlich, tot", sagt Rolf Weitz. Das Leben, wie er es kennt, ist aus der Halle gewichen. Hier und da liegen noch Werkzeuge, Konstruktionspläne, Ohrschützer. Als wären die Arbeiter nur in die Mittagspause gegangen. Und nicht mehr wiedergekommen.

Weitz mag die Unordnung nicht. Noch weniger mag er es, wenn man etwas nicht zu Ende bringt. Ganz, oder gar nicht. "Ich bin keiner, der das Messer im Schwein stecken lässt", sagt er im rheinisch-lakonischen Singsang. Seine Gewissenhaftigkeit macht es ihm schwer, sich in Ruhe zu verabschieden. Es müsse noch einiges geregelt werden, sei ja nichts passiert, vieles noch da. Er sei sehr flexibel, sagt er. "Vielleicht bin ich auch deshalb noch da." Rolf Weitz löst nicht einfach einen Betrieb auf, er wickelt seine eigene Karriere ab.

Da ist dieser Pfeiler in der Werkzeughalle, rechte Wand, relativ weit vorne. Weitz bleibt stehen. Die erste Station nach der Lehre. Maschinenfertigung. Mit beiden Armen deutet er die Umrisse einer Werkbank an. Er geht zehn Schritte weiter, nächste Station, selbe Tätigkeit, andere Werkbank. Danach Meisterschule, Führungspositionen. Und so weiter.

"Jetzt haben wir ne Runde gedreht und ein paar Tränchen verdrückt", sagt Weitz schließlich und klingt, als wäre das schon lange überfällig gewesen. Ende Juni endet auch sein Vertrag. Wenn seine Arbeit getan ist, will er eine letzte Runde drehen und "aufrecht zur Tür rausgehen".

(NGZ)
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