Paul Neukirchen Das Handwerk kämpft um kluge Köpfe

Neuss · Paul Neukirchen, Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Niederrhein, spricht über den Akademisierungswahn, das Image des Handwerks und Chancen durch die Flüchtlingswelle.

Paul Neukirchen: Das Handwerk kämpft um kluge Köpfe
Foto: Woitschützke, Andreas (woi)

Herr Neukirchen, die Universitäten platzen aus allen Nähten und im Handwerk werden Auszubildende verzweifelt gesucht. Wie sehr trifft der auch von der Industrie- und Handelskammer beklagte "Akademisierungswahn" das Handwerk?

Paul Neukirchen Mit dem Problem haben Handwerk, Handel und Industrie gleichermaßen zu kämpfen. Die Zahl der Studienanfänger ist viel höher als die der Berufsanfänger im dualen Ausbildungssystem. Rund 58 Prozent aller Schulabgänger beginnen ein Studium, bis zu 40 Prozent davon brechen aber auch wieder ab. Unsere Erfahrung zeigt: Die Hälfte der Studienabbrecher hätte sich besser direkt für eine duale Ausbildung entschieden.

Paul Neukirchen: Das Handwerk kämpft um kluge Köpfe
Foto: dpa

Und warum entscheiden sich doch die meisten Schulabgänger gegen die duale Ausbildung?

Neukirchen Den jungen Leuten werden die Alternativen nicht rechtzeitig aufgezeigt. Mit dem Landesprogramm "Kein Abschluss ohne Anschluss" (KAoA) wurde die verpflichtende Berufswahlorientierung für Schüler ab der 8. Klasse gerade erst eingeführt. Besonders in den Gymnasien wird aber oft nur unzureichend über die duale Ausbildung informiert. Dazu kommt noch der gesellschaftliche Druck: Ein Akademiker, so steckt es noch in vielen Köpfen, gilt mehr als jemand, der eine duale Ausbildung absolviert hat.

Warum hält sich diese Einstellung allen Imagekampagnen von Handwerk und IHK zum Trotz?

Neukirchen Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat Deutschland jahrelang vorgehalten, dass zu wenig Akademiker ausgebildet werden. Ein Zerrbild übrigens, denn: Dabei wurden alle die, die eine Meisterprüfung gemacht haben, nicht mitgezählt. Würden die Meister, die durch die duale Ausbildung in Deutschland eine vergleichbare Qualifikation zu einem Studienabsolventen haben, eingerechnet, wären die Zahlen viel besser. Trotzdem wird immer noch versucht, den angeblichen Rückstand an Akademikern aufzuholen. Deshalb: Ja, das Problem des Akademisierungswahns gibt es. Daran muss sich dringend etwas ändern. Sonst haben wir später viele, die studiert haben, aber niemanden mehr, der ein Radio reparieren kann.

Welche Chancen haben Studienabbrecher im Handwerk?

Neukirchen Wer ein Fach studiert hat, das etwas mit einem Ausbildungsberuf zu tun hat, kann eine verkürzte Ausbildung absolvieren. Er lernt im Zweifel nicht dreieinhalb, sondern nur zwei Jahre.

Wären Kombinationen von Ausbildung und Studium im Handwerk eine Alternative?

Neukirchen Wir bieten ein triales Studium - Lehre, Meisterbrief und Bachelor Studium in einem - an. Das setzt aber voraus, dass man 100-prozentig dabei ist. Wer das angeht, muss bereit sein, auch den Samstag und Sonntag für Ausbildung und Studium zu opfern, um eben nach fünf Jahren den Meister und gleichzeitig einen Bachelor-Abschluss in der Tasche zu haben. Dafür sind sicher nicht alle Studienabbrecher geeignet.

Wie bewerten die Betriebe Bewerbungen von Studienabbrechern?

Neukirchen Es gibt keine Vorbehalte. Die Betriebe nehmen die jungen Leute gern auf. Studienabbrecher sind in der Regel hoch motiviert, denn sie suchen einen neuen Anfang. Das Problem ist, diese Menschen zu erreichen.

Warum fällt das schwer?

Neukirchen Wer das Studium abbricht, der redet nicht darüber. Manchmal exmatrikulieren sich die Leute noch nicht einmal und die Hochschulen merken das erst, wenn Prüfungen anstehen oder Fristen ablaufen.

Wie reagiert das Handwerk darauf?

Neukirchen Deswegen versuchen wir mit unserer Imagekampagne die jungen Leute frühzeitig zu erreichen, damit sie die duale Ausbildung als gleichwertig zum Studium wahrnehmen und rechtzeitig die für sie persönlich richtige Wahl treffen können. Duale Ausbildung darf nicht der "Plan B" sein, sondern muss als "Plan A 2" verstanden werden. Dafür muss sich in den Köpfen noch einiges bewegen.

Hätte das Handwerk selbst früher oder anders über seine Ausbildungsmöglichkeiten informieren müssen?

Neukirchen Wenn mehr als 20 Jahre überall berichtet wird, dass Deutschland zu wenig Abiturienten hat und Abitur und Studium als die einzig wahren Ziele dargestellt werden, ist es schwierig, dagegen anzukommen. Das einzige, was ich bei uns als Versäumnis sehe: Das Handwerk hat immer wieder deutlich betont, dass es auch die schwachen Schulabgänger beschäftigen will. Das ist zwar richtig und gut, aber es wird leider vielfach falsch verstanden. Einerseits wird das Studium gepriesen, andererseits hört man vom Handwerk, das Schulabgänger mit schlechten Zeugnissen nimmt. Daraus entsteht ein falsches Bild: Ein guter Handwerker, der erfolgreich arbeiten will, muss auch mental fit sein. Wer nicht geradeaus denken kann, wird auch im Handwerk scheitern.

Und der technische Fortschritt fördert diese Entwicklung?

Neukirchen Die Anforderungen sind enorm gestiegen. Was Auszubildende heute lernen, wenn sie Kfz-Mechatroniker werden wollen, war vor 20 Jahren Gegenstand eines Ingenieurstudiums.

Dem Handwerk fehlen Auszubildende. Mit der Flüchtlingszuwanderung kommen viele junge Menschen nach Deutschland. Kann das Handwerk davon profitieren?

Neukirchen Wir könnten profitieren, aber es gibt ein Zeitproblem. Bis wir die ersten Flüchtlinge haben, die wirklich als ausgebildete Fachkräfte im Handwerk eingesetzt werden können, werden sicher noch Jahre vergehen.

Warum dauert das so lange?

Neukirchen Nur sehr wenige der Menschen, die jetzt zu uns kommen, sprechen so gut Deutsch, dass sie für eine Ausbildung infrage kommen. Bis die nötigen Sprachkenntnisse vorhanden sind, dauert es meist zwei bis drei Jahre. Viele Flüchtlinge haben zwar bereits eine Ausbildung, deren Inhalte sind aber mit denen in Deutschland nicht zu vergleichen.

Was unternimmt das Handwerk?

Neukirchen Wir bieten selbst Maßnahmen an, um jungen Leuten, die Interesse am Handwerk haben - und das sind ja nicht alle Flüchtlinge und vielleicht auch nicht die, die die Sprache schon gut beherrschen - die Möglichkeit zu geben, sich in unseren Betrieben auszuprobieren. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Zahl derjenigen, die derzeit wirklich für eine Ausbildung zur Verfügung stehen - mit geklärtem Bleibestatus und ausreichenden Sprachkenntnissen - sehr klein ist.

Mit Flüchtlingen allein ist das Nachwuchsproblem des Handwerks also nicht zu lösen?

Neukirchen Mit Flüchtlingen allein sicher nicht. Aber: Wenn es uns gelingt, mehr Menschen unsere Sprache zu vermitteln, sehe ich schon die Chance, eine ganze Reihe davon für das Handwerk zu gewinnen. Integration hat im Handwerk Tradition. Viele unserer Handwerker haben selbst einen Migrationshintergrund. Nicht wenige führen eigene Betriebe.

Welche Forderungen stellen Sie mit Blick auf die Flüchtlingszuwanderung an die Politik?

Neukirchen Sprache müsste schneller vermittelt werden. Ich bin aber auch Realist und mit vielen Menschen, die Flüchtlinge betreuen, im Gespräch: Das Problem ist, dass es zu wenig Lehrer und zu wenig Unterrichtskapazität gibt. Daran muss intensiv gearbeitet werden. Außerdem brauchen wir kürzere Bearbeitungszeiten, um den Status von Flüchtlingen zu klären und anschließend schneller mit dem Sprachunterricht und weiteren Maßnahmen beginnen zu können.

FRANK KIRSCHSTEIN UND ANDREAS BUCHBAUER FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

(NGZ)
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