Neuss Als Kleidung ein Luxusgut war

Neuss · Hildegard Denstorf hat einen Bittbrief ihres Großvaters Johann Funck entdeckt, in dem er das Wirtschaftsamt um Kleidung für seine sechsköpfige Familie bittet - die Not während der Nachkriegszeit in Neuss wird deutlich.

 "Wollen Sie sich einmal bitte überlegen, was ich mit dieser Zuteilung anfangen soll?", schrieb Johann Funck am 19. November 1946 an das Wirtschaftsamt.

"Wollen Sie sich einmal bitte überlegen, was ich mit dieser Zuteilung anfangen soll?", schrieb Johann Funck am 19. November 1946 an das Wirtschaftsamt.

Foto: Denstorf

Es sind Zeilen, die die große Not spürbar machen, in der sich ihr Verfasser befand. Zeilen, die einen Einblick geben, wie schwer es auch für Neusser Familien war, nach dem Zweiten Weltkrieg in einen geregelten Alltag zurückzufinden. Zahlreiche Dokumente aus dieser Zeit hat die Neusserin Hildegard Denstorf gesammelt - auch von ihrem Großvater Johann Funck. Regelmäßig sieht sie die vielen staubigen Unterlagen durch. Vor kurzem sind ihr zwei Bittbriefe in die Hände gefallen, in der sie einen Einblick in die Gefühlswelt ihres Opas während der Nachkriegszeit erhielt. "Es wurde ja sehr wenig darüber erzählt. Es sind nur Bruchstücke, die mir in Erinnerung geblieben sind", sagt Denstorf, die mittlerweile hoch im Norden in Süderbrarup lebt.

 Ein Foto unmittelbar aus der Nachkriegszeit: Antragsteller Johann Funck (l.) mit seiner Familie.

Ein Foto unmittelbar aus der Nachkriegszeit: Antragsteller Johann Funck (l.) mit seiner Familie.

Foto: Denstorf

In dem ersten Brief vom 20. Juli 1946 wendet sich Johann Funck an das Wirtschaftsamt der Stadt Neuss und bittet für seine sechsköpfige Familie um gültige Bezugsscheine für Bekleidung und Schuhe. Die einzigen nach Kriegsende ausgestellten Scheine hatten inzwischen ihre Gültigkeit verloren. Von der Familie war nach Kriegsende niemand mehr in Neuss. In Erfurt, wo die Mutter und der jüngste Sohn evakuiert waren, wurden die bereits für den Transport nach Neuss bereitgelegten Kleidungsstücke gestohlen - bis auf einen Anzug und einen Mantel.

Als Funck und zwei seiner Söhne 1945 aus der Gefangenschaft entlassen wurden, besaßen sie nichts als Fetzen. "Seit dieser Zeit haben wir aber noch nicht ein Stück Schuhe oder Bekleidung bekommen, sodass wir oft gezwungen waren, am Sonntag hintereinander an die frische Luft zu gehen, weil ja nur ein ganzer Anzug und Mantel zur Verfügung stand. Einige geliehene Kleidungsstücke und Schuhe wurden dann auch noch zurückgefordert, weil der Besitzer aus der Gefangenschaft zurückgekehrt ist", schrieb Funck in seinem Brief an das Wirtschaftsamt.

 Hildegard Denstorf lebt mittlerweile in Norddeutschland.

Hildegard Denstorf lebt mittlerweile in Norddeutschland.

Foto: Denstorf

"Meine Großeltern mit ihren vier Kindern gehörten nicht mal zu den am schlimmsten Betroffenen, denn immerhin fanden sie nach der Rückkehr aus Krieg und Evakuierung ihre Wohnung an der Kettelerstraße unversehrt vor. Wie schlimm muss es da erst denjenigen ergangen sein, die ausgebombt und obdachlos waren?", fragt Denstorf. Ihr Vater Hanns Funck war nach dem Krieg Leiter der Neusser Caritas und des Katholischen Jugendamtes, unter anderem war er zuständig für die Verteilung der Carepakete. Auch in der Caritas gab es eine Sammelstelle für Kleidung, es war jedoch so wenig, da dass kaum etwas gespendet werden konnte. Johann Funck wollte das Amt seines Sohnes nicht ausnutzen, um an Kleidung zu kommen. "Mein Opa war ein sehr korrekter Mensch und wollte den offiziellen Weg gehen", sagt Hildegard Denstorf.

Der offizielle Weg erwies sich jedoch als immer schwieriger. So wandte sich Johann Funck am 19. November 1946 erneut an das Wirtschaftsamt, weil er seit seinem ersten Antrag lediglich ein Paar Schuhe, ein Paar Kinderstrümpfe und ein Kinderhemd erhalten hatte. "Wollen Sie sich einmal bitte überlegen, was ich mit dieser Zuteilung anfangen soll?", schrieb Funck in seiner Not und machte auf die in dieser Zeit angeblich reichlich angekündigten Schuhzuteilungen für Kinder aufmerksam. Wie die Geschichte ausgegangen ist, hat Hildegard Denstorf nie erfahren. "Ich kann mich nur auf den schriftlichen Nachlass berufen", sagt die 65-Jährige.

(NGZ)
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