Hilfsorganisation aus Nettetal "Aleppo wird dem Erdboden gleichgemacht"

Nettetal · Anestis Ioannidis hat vor zehn Jahren die Hilfsorganisation "Human Plus" in Nettetal gegründet. Der Verein schickt Medikamente, Babynahrung und Verbandszeug nach Aleppo in Syrien. Er selbst war schon dort und erzählt im Interview von Giftgasattacken und Rebellen, die Kinder als Kämpfer anwerben.

 Kinder in Aleppo bekommen Hilfspakete vom Nettetaler Verein "Human Plus".

Kinder in Aleppo bekommen Hilfspakete vom Nettetaler Verein "Human Plus".

Foto: Anestis Ioannidis

Am liebsten würde Anestis Ioannidis (58) aus Nettetal jede Woche einen Lkw mit Hilfsgütern in die nordsyrische Stadt Aleppo schicken. Doch das kann er nicht: denn er hat nur einen Lkw, den er immer wieder losschickt. Und sein Verein "Human Plus" funktioniert nur durch Spenden und ehrenamtliche Arbeit. Vor zehn Jahren gründete Ioannidis gemeinsam mit Freunden die Hilfsorganisation "Human Plus" in Nettetal. Bis heute arbeitet der Verein nur mit ehrenamtlichen Mitarbeitern und einem Netzwerk aus Helfern. Er selbst war schon in Aleppo, zuletzt vor zwei Jahren. Im Augenblick wäre zu riskant, dorthin zu fahren, sagt Ioannidis. Was die Menschen dort jeden Tag erleben, schildert er im Gespräch mit der Redaktion.

Herr Ioannidis, Sie bekommen mit, was täglich in Aleppo passiert. Was sind Ihre Eindrücke?

Anestis Ioannidis: Erst heute morgen habe ich eine Nachricht aus Aleppo bekommen, dass es einen Angriff mit Chlorgas gegeben hat. Das Assad-Regime setzt immer noch Chlorgas ein, um den Widerstand in und um Aleppo zu brechen. Aleppo wird im Augenblick bombadiert wie Köln im Zweiten Weltkrieg. Aleppo wird dem Erdboden gleichgemacht. Wir bräuchten Gasmasken für alle Kinder und Erwachsenen. Die ganze Welt weiß, dass Assad Giftgas einsetzt, und trotzdem unternimmt niemand etwas.

Wie ist die Lage der Menschen in Aleppo?

Ioannidis: Wenn heutzutage über Monate und Jahre Kinder, Frauen und ganz normale Menschen vor den Augen der Öffentlichkeit bombardiert und sogar mit Chemiewaffen bekämpft werden, wenn ein Machthaber für den Tod von fast einer halben Million Menschen in seinem Land verantwortlich ist und Millionen auf der Flucht sind — dann hat die Politik versagt. Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas heute noch möglich ist. Über 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erleben wir Machtkalkül, Stellvertreterkriege und Blockdenken auf dem Rücken der Menschen. Dabei ist schon klar: Lösungen wird es weder durch Abwarten, noch durch Bombardements und Gewaltexzesse geben; diese entstehen einzig durch Diplomatie und Verhandlungen.Unsere Rolle kann in der Zeit nur sein, die Menschen am Leben zu halten, ihnen Hoffnung zu geben und ein Zeichen zu setzten, dass wir sie nicht vergessen. Ich würde gerne jeden Tag einen Lkw mit Hilfsgütern nach Aleppo bringen. Wir können da humanitär ganz viel erreichen. Wir könnten die Menschen für uns gewinnen, ihnen Hoffnung geben, dass man sie nicht aufgegeben hat. Angela Merkel sagt, es gebe keine Alternative zu einem Flüchtlingspakt mit der Türkei. Das sehe ich nicht so. Die Alternative ist noch stärkere humanitäre Hilfe für die Menschen in Syrien, die Flüchtlinge im Libanon, in Jordanien und in der Türkei. An der Stelle distanziere ich mich ganz klar von jeder politischen Stellungnahme, denn unser Auftrag ist rein humanitär. Wir handeln aus unserem humanistischen Weltbild heraus und auch, weil wir das Leiden und Elend nicht ertragen können. Es ist eine menschliche Katastrophe.

 Anestis Ioannidis hilft Kindern in Aleppo.

Anestis Ioannidis hilft Kindern in Aleppo.

Foto: Anestis Ioannidis

Was haben Sie selbst dort erlebt?

Ioannidis: Ich war das letzte Mal vor zwei Jahren dort. Im Augenblick wäre es sehr, sehr gefährlich, dahin zu fahren. Überall sind zerstörte Häuser, Leichen liegen auf den Straßen, Menschen hocken apathisch vor ihren zerbombten Häusern. Obwohl dort jeden Tag etwas passiert, gehen sie sehr gelassen mit der Situation um. Kinder spielen auf den freien Plätzen. Wir wollen den Kindern nicht nur Nahrung und Medikamente bringen, sie brauchen auch Spielsachen, Lehrmaterial oder Süßigkeiten. Etwas, das sie ablenkt. Unser vorletzter Transport hat Bälle hingebracht, damit die Kinder Fußball spielen können. Es gibt nichts Besseres, als die Kinder zu beschäftigen. Viele Kinder sind allein. Sie werden von Rebellengruppen und Splittergruppen der Freien Syrischen Armee angeworben. Sie bekommen etwas zu essen und dann eine Gehirnwäsche. Ein paar Tage später sind sie Kindersoldaten. Das dürfen wir nicht zulassen.

Wie helfen Sie genau?

Ioannidis: Wir haben einen Lkw, den wir mit Hilfsgütern beladen. Wir schicken Medikamente, Verbandsmaterial, Babynahrung, Spielsachen, Hygieneartikel und Kleidung nach Aleppo. Der Lkw wird in Nettetal beladen und fährt nach Italien, dort wird er in die Türkei eingeschifft. Dort müssen wir den Container verzollen. Wir fahren mit dem Lkw bis in die neutrale Zone an der Grenze. Dort wird der Container ausgeladen und unsere Helfer bringen die Hilfsgüter dann nach Syrien. Es dauert acht bis zwölf Tage, bis der Lkw in Syrien ist. Wir haben ein Netzwerk von etwa 50 bis 60 Freunden und Mitarbeitern, die ortskundig sind. Auf diese Weise sind wir meines Wissens nach die einzige Hilfsorganisation, die überhaupt bis nach Aleppo kommt und die militärische Blockade durchbrechen kann.

Was macht Ihr Verein noch?

Ioannidis: Mein Verein unterstützt Projekte im Inland und im Ausland. In Deutschland unterrichten wir Flüchtlingskinder im Grundschulalter in Deutsch, damit sie sich besser integrieren können. Im Ausland helfen wir augenblicklich in Syrien, in der Ostukraine und in Griechenland. Wir haben aber auch langfristige Projekte. In Tadschikistan werden Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte operiert. In Afrika haben wir eine Frauenklinik in Eritrea gebaut und in Namibia helfen wir Frauen, sich als Näherinnen selbstständig zu machen.

Wieso haben Sie den Verein gegründet?

Ioannidis: Meine Motiviation liegt schon lange, lange zurück. Ich bin in einem kleinen Dorf im Norden Griechenlands geboren, meine Eltern waren Landwirte. Alles war sehr ärmlich dort. In den 60er Jahren bekamen wir Care-Pakete aus den USA. Das hat mich fasziniert, dass andere Leute an uns denken. Mit 13 Jahren bin ich nach Deutschland gekommen. Später wollte ich anderen Menschen helfen.

Wann haben Sie die letzte Hilfslieferung nach Aleppo geschickt?

Ioannidis: Das war am 2. September. Das war die zehnte Lkw-Lieferung. Wir haben schon 160 Tonnen Hilfsmittel dorthin gebracht. Ich würde gerne noch mehr machen. Aber wir sind eine kleine Organisation, wir arbeiten alle ehrenamtlich, bekommen keine öffentlichen Gelder. Wir sind auf die Unterstützung der Bürger angewiesen.

Was brauchen Sie?

Ioannidis: Am besten unterstützen uns die Bürger mit Geld, damit wir die Menschen in Aleppo kontinuierlich unterstützen können.

(heif)
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