Nettetal Die Ungewissheit hat endlich ein Ende

Nettetal · 70 Jahre ist der Zweite Weltkrieg nun schon vorüber. Aber immer noch gibt es Schicksale aus dieser Zeit, die noch geklärt werden müssen, gibt es Menschen, die nach Verwandten suchen, die seit dieser Zeit vermisst sind.

 Antonie August mit einem historischen Foto ihrer drei Cousinen. Das hatte ihre Tochter Doris zum 75. Geburtstag der Mutter vor nunmehr 15 Jahren über Bekannte beschafft.

Antonie August mit einem historischen Foto ihrer drei Cousinen. Das hatte ihre Tochter Doris zum 75. Geburtstag der Mutter vor nunmehr 15 Jahren über Bekannte beschafft.

Foto: Kaiser

Jahrelang hat Antonie August Verwandte aus Tolkemit in Westpreußen gesucht. Sie waren, wie sie selbst, in den letzten Kriegsmonaten von russischen Soldaten verschleppt und interniert worden. Cousin Paul Hohmann und ein weiterer Cousin sind als Soldaten vermisst. Jahrelang bemühte sich die Familie ohne Erfolg, eine Spur der Vermissten zu finden. Sie bemühte den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), fragte bei Treffen von Vertriebenen nach.

Durch Zufall erfuhr Tochter Doris, dass der Suchdienst seit Anfang der 1990er-Jahre in sowjetischen Archiven recherchieren kann. Er erwarb Dokumente aus russischen und ukrainischen Archiven und digitalisiert seit 2004 zwei Millionen Gefangenenakten deutscher Kriegs- und Zivilverschollener.

So stellte Doris August Anfang Oktober 2014 Jahres einen neuen Suchantrag. Anlass war der bevorstehende 90. Geburtstag ihrer Mutter. Schon Anfang November, kam die erste Antwort. Die Cousine Ursula war im Februar 1945 in Insterburg in sowjetische Gefangenschaft gekommen und ins Lager Zentralnaja Kalja gebracht worden. Dort starb sie im Mai 1945.

Die Auskunft zu den Cousinen Agnes, Elisabeth und Gertrud folgte im Januar. Sie wurden in verschiedene Lager geschafft und starben dort innerhalb weniger Monate. In den Akten fanden sich sogar Totenscheine. Bei Gertrud fußt die Auskunft des DRK auf der Aussage eines Heimkehrers. Über das Schicksal des vermissten Soldaten und einer Tante konnte das DRK keine Auskunft geben. Bei einem weiteren Vetter wurde der Tod bestätigt.

Erstaunlich ist das umfangreiche Material, das der Suchdienst der Familie in Kopien zur Verfügung gestellt hat. Das sind Unterlagen aus dem Militärarchiv wie Registrierungslisten, Listen über die Orte, aus denen Menschen verschleppt wurden, bis hin zu Karten der Lager-Standorte. Sogar die Kopie des Suchplakates für den verschollenen Cousin ist beigelegt. Ausgesprochen umfangreich dokumentieren die Sachbearbeiter ihre Recherchen. Es steht am Ende des Schreibens immer ein sehr persönlicher Satz des Bedauerns. Da heißt es zum Beispiel "Wir hoffen, dass wir Ihnen mit unserer Auskunft und den beigefügten Aufzeichnungen nunmehr Gewissheit zum Schicksal Ihrer Cousine (...) geben konnten, auch wenn vielleicht dadurch nochmals alte Wunden aufgerissen wurden."

Hat es sicherlich, das ist der 90-jährigen Dame anzumerken. Doch ist Antonie August froh über die Gewissheit, etwas über das Schicksal eines Teils ihrer Verwandtschaft erfahren zu haben. Nun erst beginnt sie, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Sie war keine 20 Jahre alt, als sie und ihre Cousinen aus Tolkemit und Umgebung verschleppt wurden. Alle Mädchen und Frauen wurden mitgenommen. Die Großmutter gab ihr schnell einen Laib Brot mit, ansonsten hatte sie nur die Kleider, die sie trug. Sie mussten eilends ins 30 Kilometer entfernte Insterburg marschieren. Der Laib Brot wurde zu schwer, sie gab ihn unterwegs weg. Die Zugfahrt ins Lager war eine Qual. Es gab morgens ein Stück Brot und eine Wanne voll aufgetautem Schnee zum Trinken. Und es wurden die Toten aus dem Zug geholt und neben die Gleise gelegt. Im Lager starben viele durch Hunger und Krankheit.

Antonie August weiß nicht, wie sie das alles überstehen konnte. Sie war ein schmächtiges Mädchen und glaubte nicht an ihre Rückkehr. Doch wurde sie am 27. Juli 1945 entlassen und nach Frankfurt/Oder gebracht. Sie schlug sich nach Berlin durch. Dort lebte ein Onkel, dessen Adresse ihre Mutter sie hatte auswendig lernen lassen. Antonie lebte immer in der Angst, dass sie keiner erwarten könnte. Unterwegs half nur Betteln, geschlafen hat sie auf Bahnhöfen. Später ging es bei Nacht und Nebel über die Grenze nach Westen. Sie wollte keinesfalls in der sowjetischen Besatzungszone bleiben. Über das Flüchtlingsamt kam sie nach Kaldenkirchen, wo schon Verwandte waren. Im Kreis leben viele aus Tolkemit.

Noch etwas berührt die Frauen. Denn Antonie August und eine ihrer Cousinen waren im selben Lager, aber jeweils in einem anderen Teil. Sie waren kaum sieben Kilometer von einander entfernt. Das letzte Mal haben sich Frau August und ihre Cousine in Insterburg auf der Toilette gesehen und konnten kurz miteinander reden.

Dies sei eine Familiengeschichte, wie es sie häufig gibt, die aber erzählt und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden müsse, meint Doris August. Sie wird auf jeden Fall die ungeklärten Fälle weiter verfolgen.

(RP)
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