Moers Zwangsarbeiter erzählen gegen das Vergessen

Moers · Ehemalige ukrainische Zwangsarbeiter und ihre Nachfahren besuchen auf Einladung des Vereins "Erinnern für die Zukunft" Moers.

 Vira Shutova (l.) und Ganna Stryzhkova gestern in Moers.

Vira Shutova (l.) und Ganna Stryzhkova gestern in Moers.

Foto: Christoph Reichwein

Geschichten wie die von Vira Shutova kennt man eigentlich nur noch aus Büchern und dem Fernsehen: Als Zehnjährige wurde sie zusammen mit ihren fünf Geschwistern und ihrer Mutter von der Wehrmacht, die sich auf dem Rückzug vor der näherrückenden Roten Armee befand, aus ihrem Dorf in der Nähe von St. Petersburg nach Deutschland verschleppt. Shutova musste, obwohl sie noch ein Kind, erst in der Küche eines Arbeitslagers und dann in einer Aluminiumhütte schuften.

Ihr jüngeren Geschwister mussten das Lager fegen. Doch die 74-Jährige, die in der Ukraine lebt, steht wahrhaftig vor einem und erzählt von Verschleppung, Zwangsarbeit und monatelanger Flucht - und das gestikulierend und äußerst lebhaft.

Shutova wird in dieser Woche ihre Geschichte noch einige Male erzählen. Zusammen mit neun anderen Ukrainern ist sie für fünf Tage nach Moers gekommen, um die Erinnerung an diese Zeit lebendig zu halten. Eingeladen und organisiert hat der Moerser Verein "Erinnern für die Zukunft", der sich seit mehr als 20 Jahren für eine lebendige Erinnerungskultur an die Zeit des Nationalsozialismus in der Grafschaft einsetzt. Außer Vira Shutova ist auch Ganna Stryzhkova eine Zeitzeugin. Als kleines Kind war sie mit ihrer Familie im Vernichtungslager von Auschwitz, noch heute ist die Tätowierung zu erkennen. Dreimal sei sie geboren, erzählt sie. Zum ersten Mal im Lager als Kind von Eltern, an die sie sich nicht erinnern kann, die Befreiung durch die Russen war wie eine zweite Geburt, und die Adoption durch ein Ehepaar wie die dritte.

Die anderen Besucher aus der Ukraine sind Kinder von ehemaligen Zwangsarbeitern, die entweder schon gestorben sind oder zu krank für die beschwerliche Reise nach Deutschland. Viele der Schicksale haben dabei einen direkten Bezug zur Grafschaft. Drei Väter wurden von den Deutschen gezwungen, auf der Zeche Friedrich Heinrich in Kamp-Linfort unter Tage zu schuften. Zwei Mütter waren Zwangsarbeiterin in Duisburg und auf einem Hof bei Orsoy. Und der Vater von Vasyl Pylypenko musste zwangsweise auf einem Bauernhof bei Moers arbeiten.

Die zehn Gäste berichten über ihr Schicksal, das ihrer Familien und über ihr Leben in der Ukraine vor der jungen Generation, für die der Zweite Weltkrieg weit entfernt ist. So gehen sie an weiterführenden Schulen in Moers und in der Umgebung. Gestern Vormittag haben sie vor Schülern am Gymnasium Filder Benden in Moers und am Julius-Stursberg-Gymnasium in Neukirchen-Vluyn gesprochen. Und morgen, am Donnerstag, besuchen sie das Gymnasium Rheinkamp und die Anne-Frank-Gesamtschule, beide in Moers-Rheinkamp. Gedolmetscht und begleitet werden sie dabei von dem Ukrainer Volodymyr Malyutin, der den Moerser Verein "Erinnern für die Zukunft" seit über zehn Jahren unterstützt und gestern bei einer Feier zum Ehrenmitglied ernannt wurde.

Der Moerser Verein war 1995 von Bernhard Schmidt genau zu diesem Zweck gegründet worden. Ehemaliger Zwangsarbeiter, die in den früheren Altkreis Moers verschleppt worden waren, sollten in die Grafschaft kommen und von ihrem Schicksal erzählen. Ein Plan, der aufging. Mittlerweile waren sechs Gruppen von ehemaligen Zwangsarbeitern und ihren Angehörigen zu Besuch.

Doch nicht nur in den Schulen soll der leidvollen Vergangenheit gedacht werden. Die Besuchergruppe will den Opfern des Zweiten Weltkrieges auch auf dem Friedhof Lohmannsheide gedenken. Alle, die dabei sein wollen, können morgen um 11 Uhr zum Haupteingang des Friedhofes kommen.

(RP)
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