Serie Moerser Im Exil Vom Schulrebell zum Arbeitsrichter

Moers · Achim Klueß lebt seit 30 Jahren in Berlin. Seine Kindheit und Jugend hat der Jurist in Moers verbracht.

 Heute geht er gerne im Berliner Umland spazieren.

Heute geht er gerne im Berliner Umland spazieren.

Foto: Klueß

Moers/berlin Der Film hieß "Ich bin ein Elefant, Madame", und auf dem Plakat dazu war ein nackter Busen zu sehen. Achim Klueß kann sich gut an die Aufregung erinnern, die dies am Adolfinum zur Folge hatte. "Wir hatten eine Art Filmclub und zeigten Filme in der Aula. Die Schulleitung wollte die Aufführung verhindern." Es war Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, die Schülerschaft übte, was der Streifen von Peter Zadek thematisierte und was einfach angesagt war: den Aufstand. "Ich war damals ziemlich politisch", erinnert sich der heute 61-Jährige. "Der Vietnamkrieg war in der Endphase, es gab die antiautoritäre Bewegung, Mädchen am Adolfinum durften keine Hosen tragen." Klueß wurde Schülersprecher und begehrte auf, was das Zeug hielt.

Geboren wurde der spätere Rebell 1956 in Stavenhagen, einer Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern. "Aber meine Kindheit und Jugend, das ist Moers." 1958 flüchteten die Eltern mit damals zwei Söhnen aus der DDR, die Familie landete in der Stadt zwischen Niederrhein und Ruhrgebiet. "Wir wohnten an der Baerler Straße, Ecke Rheinberger Straße, der Moersbach war um die Ecke. Es war ein wildes Gelände, für uns Kinder war es das Paradies." Der kleine Achim fing mit seinen Freunden Stichlinge im Moersbach und ging auf große Fahrt: "Wir haben aus alten Türen und Fässern Flöße gebaut." Das Material organisierten sie in den alten Soldatenbaracken der Mattheck.

Nicht ganz so paradiesisch hat Klueß die Schulzeit im Kopf. Kind eines erzkatholischen Elternhauses, wurde er Messdiener an St. Josef und kam in die benachbarte katholische Grundschule am Kastell (das Gebäude wurde 1972 abgerissen). "An die hab ich wilde Erinnerungen. Die Lehrer schlugen uns Kindern mit der Linealkante auf die Finger und andere Körperteile." Sie prügelten ihm den Katholizismus eher aus als ein. "Mit 18 bin ich aus der Kirche ausgetreten." Viel später, als er mit seiner (katholischen) Frau über den Religionsunterricht für den Sohn sprach, bestand er darauf: Wenn schon, dann solle das Kind evangelisch werden. "Die katholische Kirche war mir zu konservativ."

Die neun Jahre Adolfinum - geschenkt. Die "lateinisch-griechische" Ausbildung ödete Klueß an. "Ich hatte keine Lust auf Schule." Umso mehr auf Politik. "Die Flugblätter, die wir damals gedruckt haben, hab ich jetzt noch in einem Karton irgendwo auf dem Dachboden." Abends wurde in der "Röhre" bei einem Bier weiter politisiert. "Bis ein Uhr nachts, dann machten die Kneipen damals Schluss." Als linker Intellektueller, der etwas auf sich hielt, hätte Klueß nach dem Abi den Wehrdienst verweigern oder sich ihm zumindest nach West-Berlin entziehen müssen. Er dagegen wollte gerade wegen seiner politischen Einstellung zum Bund. "Wir dachten, dass auch Leute wie wir bei der Bundeswehr sein sollten." Im Gegensatz zu seinen Befürchtungen habe er den Dienst sehr positiv erlebt. "Wir wurden korrekt behandelt und nicht drangsaliert." Auch nicht nach Beschwerden gegen Vorgesetzte, von denen eine sogar eine "Nachhilfe" in Sachen Menschenführung für das Offizierskorps nach sich zog. Vor allem aber konnte Klueß dort den LKW-Führerschein machen. Der war ihm ein paar Jahre später, nach seinem ersten Studium, nützlich: Ein Jahr lang arbeitete er als Lastwagenfahrer. "Ich fuhr mit einem 26-Tonner kreuz und quer durch Westberlin und hab richtig gut Geld verdient. Heute sind die Löhne für LKW-Fahrer echt mies."

1977 ging Klueß nach Berlin, um dort zu studieren. "Mich lockte das Großstadtflair. Berlin war ein Biotop für junge Leute, bunt, mit Kneipen und Clubs." Klueß hatte außerdem eine Anlaufstelle: Sein Schulkumpel Gerd Vowe war bereits in West-Berlin. Klueß zog zu ihm, belegte Politologie als Hauptfach, machte sein Diplom, war aber mit den Berufsaussichten unglücklich. "Ich hätte VHS-Kurse geben können. Aber es gab nur wenige, schlecht bezahlte Stellen." Das Jahr als LKW-Fahrer mit Politologie-Diplom gab ihm Gelegenheit, über seine Zukunft nachzudenken und Geld für ein zweites Studium an die Seite zu legen. "Mein Leben lang LKW fahren wollte ich nicht, in Naturwissenschaften war ich zu schlecht, in Sprachen auch nicht gut." Blieb Jura. Trotz anfänglicher Vorbehalte gefiel Klueß das Studium, das er mit einem guten Zeugnis abschloss. Und er hatte Glück: Das Ende des Studiums fiel in die Zeit der Vereinigung Deutschlands. "Es wurden händeringend Richter gesucht." Klueß spezialisierte sich auf Arbeitsrecht; seit 2006 ist er einer von 22 Richtern am Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg.

Aus dem Moerser Klueß ist ein Vollblut-Berliner geworden. Nein, er wäre auch dann nicht zurückgekehrt, wenn ihm die "Wende" keine berufliche Karriere in der Bundeshauptstadt beschert hätte. Seine Eltern sind gestorben, der ältere Bruder lebt in Bochum, der jüngere in Duisburg - in die Grafenstadt kommt Klueß nur noch sehr selten. Moers, das ist für ihn Erinnerung: an längst abgerissene Altstadthäuser, an Industriedreck an den Fenstern, an Ratten an der Kanalstraße, Stichlinge im Moersbach und an einen Busen auf einem Filmplakat.

(RP)
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