Moers Nur Lob fürs größte Straßenfest der Welt

Moers · Am 18. Juli 2010 war der Ruhrschnellweg ein "Still-Leben". Drei Millionen Menschen trafen sich auf einer 60 Kilometer langen Strecke zum Feiern. Sechs Tage später kam es bei der Loveparade zur Katastrophe.

 Ein denkwürdiger Sonntag: Bei bestem Wetter trafen sich drei Millionen Menschen auf der Autobahn.

Ein denkwürdiger Sonntag: Bei bestem Wetter trafen sich drei Millionen Menschen auf der Autobahn.

Foto: Sabine Hannemann

Die erste Hälfte des Kulturhauptstadtjahrs war Ende Juni 2010 gerade verstrichen. In der Mercator-Halle zogen die beiden "Ruhr.2010"-Geschäftsführer Fritz Pleitgen und Oliver Scheytt eine überaus positive Zwischenbilanz der vergangenen Monate und blickten erwartungsfroh auf die beiden noch ausstehenden Großereignisse: das Still-Leben auf der Autobahn 40 am 18. Juli. Und die Loveparade sechs Tage darauf. Wie man heute weiß, übertraf das erste Großereignis die schönsten Erwartungen. Die tödliche Katastrophe bei der Loveparade wurde zum Trauma und zu einem Stigma der Stadt Duisburg.

Hier wollen wir nur auf das Still-Leben zurückblicken. Die Idee war pfiffig. Sie geht auf die Erfahrungen bei der Ölkrise zurück, bei der an einigen Sonntagen in Deutschland das Fahren mit dem Privatwagen verboten worden war. In einem der vielen Kreativitätsrunden zum Kulturhauptstadtjahr stellte irgendjemand die Frage in den Raum: Wie wäre es, wenn wir an einem Sommertag den Ruhrschnellweg für den gesamten motorisierten Verkehr sperren und ein 60 Kilometer langes Straßenfest feiern?

Die Idee wurde in die Tat umgesetzt. Am Sonntag, dem 18. Juli 2010, wurde der so genannte Ruhrschnellweg von der Abfahrt Duisburg-Häfen bis zur Abfahrt Märkische Straße in Dortmund für den motorisierten Verkehr gesperrt und für Fußgänger, Skater und Radfahrer freigegeben. Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks bauten auf einer Seite der Autobahn etwa 20 000 Biertisch-Garnituren auf. Die Tische waren zuvor für zirka 25 Euro an Gruppen im Losverfahren vermietet worden. Mit den Mieteinnahmen wurde ein Teil der Organisationskosten gedeckt. Die an den Tischen sitzenden Still-Leben-Teilnehmer wurden gebeten, irgend etwas vorzuführen, was Passanten interessieren, unterhalten oder erfreuen würde.

Und so passierte es auch: Da wurde gesungen, mit Gitarre oder Trompete musiziert, geturnt, Schach gespielt, Kinder geschminkt, Fußballkärtchen getauscht, gezaubert, öffentlich gepokert und gemalt, Brautmode präsentiert, oder es wurden beispielsweise Tipps fürs Stricken oder Blumenumtopfen gegeben. Einige Unternehmen hatten gleich mehrere Tische gemietet und nutzten den Tag zu einem Firmenausflug mit Spätaufsteher-Frühstück und Umtrunk.

Schätzungsweise drei Millionen Besucher strömten an dem Sonntag zwischen 11 und 17 Uhr zum Still-Leben. Es kam zwar immer wieder zu Gedränge, besonders auf der so genannten Mobilitätsspur, wo man sich mit Fahrrad oder Skateboard fortbewegen durfte, aber nennenswerte Unfälle oder Streitigkeiten oder gar Schlägereien registrierte die Polizei nicht. Auch das im Vorfeld von einigen Skeptikern befürchtete Verkehrschaos wegen der Sperrung der viel befahrenen A 40 blieb aus. Die Umleitungslogistik funktionierte gut. Gemeldet wurde lediglich, dass einige Ausfahrten wegen des Andrangs von Fahrradfahrern zeitweise gesperrt wurden.

Am Sonntag, 17 Uhr, endete das Still-Leben, und alle Besucher hatten den Ruhrschnellweg zu verlassen. Bereits um 18.15 Uhr, so die Chronik, war die A 40 Fußgänger-frei. Die THW-Helfer luden die Biertischgarnituren auf Lkw, die 2000 mobilen Toilettenkabinen wurden ausgepumpt und ebenfalls auf Lkw verladen. Montagfrüh um 5 Uhr sah die A 40 so aus, als ob es dort nie das "größte Event-Picknick der Welt" gegeben hätte.

Am nächsten Tag las man in allen Zeitungen launige Artikel über das von allen Ölkrisen unabhängige Still-Leben und im Fernsehen und Rundfunk verbreiteten mehr oder weniger berufene Volksvertreter einhellig nur Lob in Richtung der Organisatoren. In einem spöttelnden Spiegel-Online-Beitrag war immerhin hoch halb anerkennend zu lesen, dass am 18. Juli "60 Kilometer Alltagskultur, aufgereiht auf Biertischen" zu erleben war. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft regte an, das Still-Leben im Jahr darauf zu wiederholen. Fritz Pleitgen meinte, das Still-Leben Ruhrschnellweg habe das "Potenzial, zum emotionalen Gründungsmoment der Metropole Ruhr zu werden".

Die Mobilisierung von Menschenmassen wurde da noch uneingeschränkt als positives "Seid-umschlungen-Millionen"-Gefühl empfunden. Eine Woche später, nach der Loveparade-Katastrophe, waren Menschenmassen angstbesetzt.

(RP)
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