Moers Helmut Schmidt: tapfer und entschlossen

Moers · Der ehemalige Bundesminister Jürgen Schmude blickt in einem Beitrag für unsere Zeitung zurück auf seine Arbeit im Kabinett von Bundeskanzler Helmut Schmidt, der am Dienstag im Alter von 96 Jahren gestorben ist.

Helmut Schmidt: Jürgen Schmude blickt zurück
Foto: Imago/S. Simon

An meinem ersten Tag in der SPD-Bundestagsfraktion, im Herbst 1969, war Helmut Schmidt gerade noch Vorsitzender und übergab dann an Herbert Wehner. Ich nutzte die Gelegenheit zur Diskussion und brachte ein aktuelles Problem bei den Waffenexporten zur Sprache - freilich ohne darüber richtig Bescheid zu wissen. Schmidts Antwort war kurz und abweisend. So bekam ich Anlass, über meine Kompetenz und mein Geschick im Fragen nachzudenken.

Später, als Parlamentarischer Staatssekretär und als Minister in verschiedenen Ressorts, lernte ich Schmidt aus der Nähe kennen und schätzen. Er kam bestens vorbereitet in die Sitzungen und verstand es, die Beratungen gründlich und straff zugleich verlaufen zu lassen. Wer sich ebenfalls gut vorbereitet hatte, brauchte abweisende oder gar autoritäre Kritik des Kanzlers nicht zu befürchten. Er ließ sich auf wichtige Einzelheiten hinweisen, nahm offenen Widerspruch hin und legte auf Abwägung der Vor- und Nachteile einer Entscheidung Wert. So kamen befriedigende Ergebnisse zustande.

Helmut Schmidts Sachkunde war hart erarbeitet. Bei einem Gespräch mit mir nachts um zwölf im Kanzleramt erwähnte er, dass sich die Zeiten seit Konrad Adenauer eben geändert hätten. Der habe zumeist schon abends um sechs oder sieben nach Rhöndorf fahren können. Für ihn, Schmidt, sei das undenkbar. Vor Mitternacht sei sein Arbeitstag nicht zu Ende, oft aber erst danach. Begabt, erfahren und geschickt war er, aber ohne Fleiß und Disziplin hätte er seiner Verantwortung nicht gerecht werden können. Dass er sich dabei körperlich überforderte, herzkrank wurde und ohne die Ablösung im Oktober 1982 wohl schon längst gestorben wäre, war die Kehrseite dieses kräftezehrenden Einsatzes.

Stark beeindruckt hat nicht nur mich Helmut Schmidts Bereitschaft, Verantwortung wirklich wahrzunehmen, sie nicht wegzuschieben oder wegzudelegieren. Den Ministern und Behördenchefs ließ er ihre Zuständigkeiten, aber er kümmerte sich um das, was dort geschah. Jeder musste sich auf seine Fragen zu Details gefasst machen und war dann gut dran, wenn er seine Vorlagen ebenso gut kannte wie der Kanzler. Die Unternehmenslenker von heute, die ihren Mitarbeitern Ziele vorgeben, ohne sich um Hindernisse auf den Wegen dahin zu kümmern oder Bedenken auch nur anzuhören, könnten von Schmidt lernen.

Deutschland trauert um Helmut Schmidt
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Helmut Schmidt war kein Optimist, für den alles schon irgendwie laufen wird. Erst recht lag ihm Resignation fern. Dass es Chancen gab, die großen Einsatz verlangten, auch Entschlossenheit und Tapferkeit in der Überwindung von Ängsten und in der Hinnahme von Anfeindungen, das war die Überzeugung, nach der er handelte. Manche beklagten die Härte, die sie bei ihm wahrnahmen. Dabei begriffen sie nicht, dass er in solchen Fällen auch hart gegen sich selbst war. Er musste sich durchringen zu dem unbequemen und auch unpopulären Weg, den er als notwendig erkannt hatte.

Nachdem ich für mich das Ergebnis beim Entscheidungsprozess über die Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen lange offen gehalten hatte, war ich im Herbst 1983 mit der großen Mehrheit der SPD der Meinung, man könne auf diese Verschärfung des Wettrüstens verzichten. Helmut Schmidt, seit einem Jahr Ex-Kanzler, beharrte mit wenigen Parteitagsdelegierten allein auf der Durchführung des "Nato-Doppelbeschlusses". Riesige Gegendemonstrationen und auch kirchliche Voten konnten die Nachrüstung nicht verhindern. Die Regierung Kohl-Genscher setzte durch, was Schmidt eingeleitet hatte. Und ich durfte mich fünf Jahre später befragen, warum ich dieses Mal nicht auch zu den Schmidt-Treuen gehalten hatte, da doch eben dieser Rüstungsbeschluss die Sowjetunion unter Gorbatschow zum Einlenken brachte, mit der Auflösung des Ostblocks und der deutschen Wiedervereinigung als Folge.

Helmut Schmidt und die Staatschefs der Welt
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Foto: dpa

Helmut Schmidt hatte in für ihn schwieriger Zeit Weitblick von historischer Bedeutung bewiesen. Seine ständigen Warnungen vor dem Bevölkerungswachstum in den armen Ländern und seine Mahnung, die Wirtschaftsmacht China ernst zu nehmen, werden allmählich ebenfalls als berechtigt erkannt.

Während hunderttausende die Parteien verlassen, weil ihnen dieses oder jenes missfällt, ist Helmut Schmidt unbeirrt SPD-Mitglied geblieben. Oft hatte er es schwer mit seiner Partei. Zugleich war er ein glaubwürdiger Sozialdemokrat, der nicht nur das Wohl des Staates im Ganzen, sondern auch die Sorgen und Bedürfnisse der Einzelnen im Blick hatte. Was die Arbeitnehmer, was die Schwachen in der Gesellschaft bedrückt, brachte er anschaulich in Beratungen ein. Für ihn war es selbstverständlich, auf eine Interviewanfrage vor einigen Jahren, ob er denn schon mal den Parteiaustritt in Betracht gezogen habe, denkbar knapp und deutlich zu antworten. Er sagte schlicht: "Nie!" Daran mögen sich die halb oder ganz Verdrossenen aller Parteien ein Beispiel nehmen, wenn sie, statt für Besserung zu arbeiten, ins unpolitische Abseits flüchten wollen.

(RP)
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