Moers 48 Jahre Präzisionsarbeit nach Maß

Moers · Ingrid Rosenfeld war die dienstälteste Schneiderin im Maßatelier Reeker. Fast ein halbes Jahrhundert lang hat sie Anzüge und Mäntel genäht. Jetzt hat sie den Ruhestand angetreten.

 Links: Ingrid Rosenfeld in den 1970er Jahren. An ihrem Arbeitsplatz hat sich seither wenig verändert. Rechts: Bei Heinirch Reeker (rechts) hat Ingrid Rosenfeld 1969 ihre Lehre angetreten. Sein Sohn Heinz übernahm das Geschäft ein Jahr später.

Links: Ingrid Rosenfeld in den 1970er Jahren. An ihrem Arbeitsplatz hat sich seither wenig verändert. Rechts: Bei Heinirch Reeker (rechts) hat Ingrid Rosenfeld 1969 ihre Lehre angetreten. Sein Sohn Heinz übernahm das Geschäft ein Jahr später.

Foto: Reeker

Mit seinen Händen etwas herzustellen, etwas Schönes und Praktisches zugleich, an dem ein Mensch sich lange erfreuen kann - welch gutes Gefühl muss das sein. Ingrid Rosenfeld konnte fast ein halbes Jahrhundert lang ihrer täglichen Arbeit mit diesem Gefühl nachgehen. "Nähen war immer mein Ding", sagt die Moerserin, die gerade nach 48-jähriger Betriebszugehörigkeit im Maßatelier Reeker in den Ruhestand verabschiedet wurde. Das war schon als junge Frau so, weshalb sie sich auch nach dem Schulabschluss flugs bei Reeker bewarb, als sie von einer Freundin hörte, dass dort drei Lehrlinge gesucht wurden. Zusammen mit ihrer Freundin durfte Rosenfeld die Lehre tatsächlich antreten - und sie blieb ein Berufsleben lang. "Warum sollte ich mich irgendwo anders bemühen?", sagt sie rückblickend. Reeker war damals schon ein seit vielen Jahrzehnten eingesessener Betrieb mit weit über Moers wohlklingendem Namen. Eine ähnlich anspruchsvolle und befriedigende Arbeit als Schneiderin hätte sie nicht leicht woanders gefunden.

 Ingrid Rosenfeld im Atelier an der Neustraße. Die Nähmaschine ist wichtiges Handwerkzeug der professionellen Schneiderin. Vor allem aber muss sie virtuos mit Nadel und Faden umgehen, denn der größte Teil des Nähens erfolgt in Handarbeit.

Ingrid Rosenfeld im Atelier an der Neustraße. Die Nähmaschine ist wichtiges Handwerkzeug der professionellen Schneiderin. Vor allem aber muss sie virtuos mit Nadel und Faden umgehen, denn der größte Teil des Nähens erfolgt in Handarbeit.

Foto: Klaus Dieker

Als die heute 63-jährige anfing, war das Maßatelier noch an der Hülsdonker Straße, Chef war Heinrich Reeker, dessen Sohn Heinz 1970 übernahm. "1976 sind wir an die Neustraße gezogen", erinnert sich Ingrid Rosenfeld. Zwei Jahre später schlug die größte Stunde des Betriebs: Reeker bekam die höchste Auszeichnung des Gewerbes, den sogenannten Wanderpreis. Es waren so etwas wie die goldenen Jahre des Herrenschneiders und -ausstatters, von dem sich auch Prominente einkleiden ließen. Schlagerstar Karel Gott widmete Ingrid Rosenfeld eine Autogrammkarte. "Das war noch in meiner Lehrzeit. ,Für Inge, alles Gute' stand darauf." Und im Laden hing noch lange Zeit danach ein handgeschriebenes Kompliment der "Goldenen Stimme aus Prag": "Ich möchte so singen, wie sie schneidern können." Auch ein Anzug für den damaligen NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau ging durch Ingrid Rosenfelds Hände. Den Politiker selbst hat sie nie getroffen. Zum Maßnehmen und zur Anprobe sei er stets außerhalb der regulären Öffnungszeiten gekommen.

Moers: 48 Jahre Präzisionsarbeit nach Maß
Foto: Reeker

War es eine besondere Verantwortung, für den Landesvater zu nähen? "Man passt bei jedem Kunden gut auf", sagt Ingrid Rosenfeld. Die Schneiderei war damals, und ist noch heute, Präzisionsarbeit, die zu drei Vierteln manuell erfolgt. Wo bei industriellen Sakkos etwa mit Maschinen genäht oder geklebt wird, sitzt im Maßatelier die Schneiderin mit Nadel und Faden in der Hand und geht ihrer filigranen Arbeit nach. Klar kommen auch Nähmaschinen zum Einsatz. Die alte "Pfaff", auf der Ingrid Rosenfeld gelernt hat, tut im Atelier noch immer ihre Dienste. "Aber eigentlich nähen wir nur die Längsnähte mit der Maschine. Alles andere machen wir von Hand", sagt Gunda Lippert, heute Chefin im Maßatelier Reeker.

Zum Handwerkzeug der Herrenschneiderin gehörte auch ein Bügeleisen, ein mächtiges, vier bis fünf Kilo schweres Ding, mit dem die genähten Teile schlussendlich in Form gebracht werden. 60 bis 70 Stunden dauert es, bis ein Anzug im Atelier fertig ist, zwei Stunden davon gehen für das Bügeln drauf. Wer so einen Eisenklotz in die Hand nimmt und sich vorstellt, ihn zigmal vom Bock wuchten zu müssen, der ahnt: Manchmal ist die Schneiderei echte Knochenarbeit.

Wer ein Leben lang hochwertige Kleidung näht, geht mit einem besonderen Blick durch den Alltag. Schlecht verarbeitete Jacken oder Hosen, schiefe Nähte, schlechte Passform - das fällt Ingrid Rosenfeld sofort ins Auge. Auch teure "Markenkleidung" falle unter ihrem professionellen Blick handwerklich oft durch. Und ihre Familie ist gleichzeitig Leidtragende und Profitierende ihres Hangs zu korrekt sitzender Kleidung. "Meinem Mann und meinem künftigen Schwiegersohn habe ich für die Hochzeitsfeier Anzüge maßgenäht", sagt die Mutter einer inzwischen 30-jährigen Tochter.

Die Stunden im Maßatelier wird Ingrid Rosenfeld nicht zuletzt wegen des netten Teams vermissen, wegen der jungen Menschen, denen sie beim Start ins Berufsleben helfen konnt. "45 Lehrlinge hab ich mit ausgebildet." Ans Rentnerinnendasein müsse sie sich erst noch gewöhnen. "Ich seh das erstmal als Urlaub an." Den hat sie sich nach 48 Jahren redlich verdient.

(RP)
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