Emrah Bektas (dgb) Wir wollen die Politik mehr fordern

Mönchengladbach · Der gerade einmal 30 Jahre alte Informatiker ist der neue Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Gladbach. Er vertritt 16.000 Mitglieder. Akzente setzen will er bei der Sicherung industrieller Arbeitsplätze und der Alterssicherung.

 Emrah Bektas im Gewerkschaftshaus an der Rheydter Straße, das derzeit renoviert wird.

Emrah Bektas im Gewerkschaftshaus an der Rheydter Straße, das derzeit renoviert wird.

Foto: Isabella Raupold

Herr Bektas, warum sind Gewerkschaften heute wichtiger denn je?

Emrah Bektas Ganz einfach: Weil wir in Zeiten leben, die zunehmend kapitalistischer geprägt sind und in denen Gewinnmaximierung oft an vorderster Stelle steht. Da ist es wichtig, dass sich die Arbeitnehmer zusammenschließen und ein Gegengewicht bilden - zumal die Arbeitgeberverbände in der Politik eine starke Lobby haben. Wenn man jetzt hört, dass die neue Landesregierung einiges zurücknehmen möchte, was zuvor in Sachen Arbeitnehmerrechten erstritten wurde, ist es umso wichtiger, dass die Arbeitnehmer gut vertreten werden.

Was wollen Sie anders machen als Vorgänger Hans Lehmann, der aus Altersgründen nicht mehr antrat?

Bektas Ich möchte in erster Linie den Austausch mit der Politik intensivieren. Wir werden mehr als bisher betonen, dass wir uns als DGB mit 16.000 Mitgliedern als größte politische Organisation der Stadt sehen. Mithilfe unserer Strukturen können wir Stimmungsbilder einholen und über die einzelnen Gewerkschaften transparent an die Parteien übermitteln. Da ist noch mehr möglich als bisher, auch in der Zusammenarbeit mit Arbeitgeberverbänden.

Nennen Sie mal ein Beispiel.

Bektas Als es um das Lkw-Routenkonzept ging, standen wir gemeinsam mit betroffenen Unternehmen und den Arbeitgeberverbänden bei der Stadtverwaltung und warnten, dass da Firmen in der Ausübung ihrer Tätigkeit gefährdet werden. Man muss Gemeinsamkeiten herausarbeiten, einander mehr fördern, aber natürlich auch mehr fordern.

Sie wollen also generell mehr reden.

Bektas Ich will aber in erster Linie auch Ergebnisse sehen. In der Politik dauern Prozesse oft so lang, dass am Ende keiner mehr weiß, warum man das, was jetzt passiert, eigentlich mal entschieden hat. Ich möchte erreichen, dass die Menschen in der Stadt, dass unsere Mitglieder sehen, dass sich etwas tut. Nur dann kriegen sie Spaß an der Thematik.

In welchen Bereichen wollen Sie denn erste Akzente setzen?

Bektas Wir werden uns für den Erhalt der industriellen Arbeitsplätze einsetzen, für die Verbesserung der Verkehrs- und Infrastruktur und für die Bekämpfung der Kinderarmut. Ein weiterer Schwerpunkt wird die Alterssicherung sein.

Das sind sehr große Baustellen.

Bektas Die aber in Mönchengladbach besondere Relevanz haben. 31,5 Prozent der unter 18-Jährigen wachsen in Familien auf, die Hartz IV beziehen, bundesweit nur 14,7 Prozent. Die durchschnittliche Rente von Männern in Mönchengladbach beträgt 1032 Euro, von Frauen 597 Euro. Da das Rentenniveau ständig sinkt, müssen wir hier gegensteuern. Und wir haben einen hohen Anteil an Langzeitarbeitslosen. Kinder wachsen dann wiederum in diesen Strukturen auf, und schon haben wir einen Teufelskreis.

Wie meinen Sie das?

Bektas Schauen Sie nur mal auf die hohe Zahl an Aufstockern, die in der Logistik arbeiten. Allein um auf ihre 1500, 1600 Euro brutto mit Steuerklasse I zu kommen, müssen sie viele Nachtschichten machen - dafür braucht man aber wieder ein Auto, das man sonst vielleicht gar nicht finanzieren müsste. Da haben wir als Stadt, als Politik und als Gewerkschaft große Aufgaben vor der Brust.

Gewerkschaftsarbeit, wie sie nach außen wahrgenommen wird, ist stark ritualisiert: Ein 1. Mai etwa läuft eigentlich immer gleich ab. Wollen Sie verkrustete Strukturen aufbrechen, mal was Neues wagen?

Bektas In diesem Punkt: ein klares Nein. Der 1. Mai hat so zu bleiben, wie er ist, seine Wichtigkeit ist geschichtlich bedingt. Wir wollen aber die Beteiligung am Familienfest noch deutlich steigern. Es kommt heute dabei nicht mehr so sehr darauf an, einen prominenten Gastredner zu haben, sondern darauf, dass die Besucher sich mit dem Fest identifizieren, weil sie merken, dass es aus der Mitte des Lebens heraus entstanden ist. Deswegen wollen wir die Beteiligung der örtlichen Vereine stärken und die interkulturelle Ausarbeitung mehr betonen.

Dient der 1. Mai eigentlich auch dazu, jüngere Zielgruppen für Gewerkschaftsarbeit zu gewinnen?

Bektas Bisher, wenn man ehrlich ist, kaum bis gar nicht. Aber dahin wollen wir kommen. Denn wir brauchen nicht drumherum zu reden, dass auch wir als Gewerkschaften das demografische Problem der Überalterung haben. Wir wollen beispielsweise auch mehr mit den Studierenden der Hochschule Niederrhein ins Gespräch kommen.

Nach Lehmann rückt erneut ein Metaller an die Spitze des DGB. Zufall?

Bektas Ja, da steckt kein System hinter. Es ist kein Geheimnis, dass man sich in der Spitze verjüngen wollte, und da bot sich meine Person wohl einfach an. Es ist aber definitiv nicht so, dass die beiden großen Gewerkschaften - die IG Metall hat in Gladbach 6658 Mitglieder, Verdi 6578 - bei der Besetzung von Vorstandsposten ein Vorrecht hätten. Jede der acht in der Stadt vertretenen Gewerkschaften kann, unabhängig von der Größe, Vorschläge einreichen.

Wie ist die Mitgliederentwicklung bei den Gladbacher Gewerkschaften?

Bektas Unter dem Strich steht seit Jahren eigentlich eine schwarze Null. Erfreulich ist seit einigen Jahren aber der Trend, dass die Zahl der Vollbeitragszahler wächst.

Worauf freuen Sie sich in der täglichen Arbeit besonders, wovor haben Sie den größten Respekt?

Bektas Besonders freue ich mich darauf, dass wir in Richtung Politik einen vernünftigen Austausch hinbekommen, und generell ganz einfach auf Kontakt in alle Richtungen. Bedenken habe ich, dass man mit Projekten auf die Nase fallen könnte, weil man von unterschiedlichen Akteuren auf halber Strecke im Stich gelassen wird. Ich kann aber versichern, das wird mir nicht die Lust nehmen, es dann neu zu versuchen.

Wie schätzen Sie die Nähe der Gewerkschaften zur SPD heute noch ein?

Bektas Schwierige Frage. Natürlich ist es nicht mehr so, wie es früher einmal war. Gewerkschaften und politische Parteien bekleiden aber auch ganz unterschiedliche Rollen in der Gesellschaft. Um unsere Themen zu transportieren, liegt uns die SPD natürlich immer noch am nächsten, aber prinzipiell steht und fällt das mit den Leuten, und die muss man an ihren Taten messen. Wenn die neue schwarz-gelbe Landesregierung mehr Lehrer einstellt und das vernünftig finanziert bekommt, finden wir das natürlich gut.

JAN SCHNETTLER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

(RP)
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