Mönchengladbach "Wir sind noch mal davongekommen"

Mönchengladbach · Am 1. März 1945 marschierten amerikanische Truppen in Rheydt, Morr und Pongs ein. Heute jährt sich dieser Wendepunkt der Stadtgeschichte zum 71. Mal. Unternehmer und Zeitzeuge Erwin Müller erinnert sich.

Mönchengladbach: "Wir sind noch mal davongekommen"
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Seit der Ardennen-Offensive, die am 16. Dezember 1944 begann, kommt die Offensive der 9. US-Armee zum Stillstand. Gladbach und Rheydt liegen nun im Frontgebiet, und tagsüber schießen die englischen Jagdbomber auf alles, was sich am Boden bewegt. Am frühen Abend und nochmals vor Mitternacht kommen in großen Schwärmen die amerikanischen Bomber. In diesen Wochen gehen fast alle Familien von Pongs und Morr abends in den Bunker am Pongser Wäldchen. Wegen Überfüllung müssen die Männer und Jungen in den Gängen liegen, Frauen und Mädchen in den "Zellen".

Aber wer lebt überhaupt noch in Pongs und Morr? Die meisten Menschen sind evakuiert in andere Teile Deutschlands. Meine Eltern, Großeltern und Tanten bleiben in Morr und Pongs, weil sie keine Nazis sind. Keiner ist in die Partei gegangen, und ich habe in all den Kriegsjahren keine Uniform bekommen. Ich war zum Schluss der einzige in der Klasse, der bei der Befragung aufstehen musste, weil ich keine Uniform hatte. Genauso wurde mein Vater als "Betriebsführer" jeden Monat mindestens dreimal gerügt, weil er noch nicht in der Partei war.

Mönchengladbach: "Wir sind noch mal davongekommen"
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Nach schwerem Geschützfeuer überschreiten die US-Truppen am 23. Februar jetzt endlich die Rur-Auen und setzen die gestoppte Offensive in Richtung Mönchengladbach/Rheydt fort. In der Nacht zum 1. März hören wir im Bunker Pongs noch starkes Trommelfeuer aus Richtung Gladbach, während es in Rheydt durch den Abzug der deutschen Truppen ruhig bleibt: An der Dr.-Josef-Goebbels-Sraße (heute "Am Moor") standen deutsche Panzer, die kaum noch Sprit hatten. Deshalb wollten sie möglichst keine Feindberührung mehr und haben in der Nacht Rheydt verlassen. Das war für Morr und Pongs ein großes Glück: keine Kampfhandlungen mehr mit dem Feind und keine Zerstörung von Brücken oder wichtigen Gebäuden durch abziehende deutsche Truppen.

Am nächsten Morgen, am 1. März 1945, kommen die amerikanischen Panzer, ohne einen Schuss abzugeben, nach Pongs. Kurz vor dem Bunker geht ihnen eine Frau entgegen mit der Frage: "Wo sind denn die Amerikaner?" - weil sie glaubt, es seien deutsche Soldaten. Als sie ihren Irrtum erkennt, erschrickt sie sehr und ist völlig aufgelöst. Später haben wir alle mit ihr darüber lachen können.

Dann fahren die Amerikaner zum Bunker; dort legen sie sofort eine riesige Plastikplane in greller Farbe auf die Straße, ein Zeichen für ihre eigenen Piloten. Dann gehen die Soldaten ganz vorsichtig hinein und bitten, dass alle Männer, Frauen und Kinder aus dem Bunker herauskommen sollen. Das sind viele Personen, die dann draußen mit weißen Tüchern Aufstellung nehmen. Ein Offizier gibt bekannt, dass wir ab Mittag nach Hause gehen können, bestimmte Sperrstunden aber einhalten müssen. Mein Vater und ich (14 Jahre alt) gehen von der Pongser- und der Dahlener Straße zu Fuß in die Stadt. Da es dann aber schon früh dunkel wird, kommt ein Jeep mit Soldaten schwarzer Hautfarbe, die meinen Vater und mich ermahnen: "Direkt nach home!"

Wir als Nicht-Nazis haben schon lange sehnlichst die Alliierten erwartet und sind nun froh, endlich von der Diktatur befreit zu sein. Ich weiß noch, dass ich in meiner Freude an diesem Nachmittag auf der Hauptkreuzung der Stadt Rheydt am Marienplatz einen Freudentanz aufgeführt habe. Später habe ich dieses Lebensgefühl im Titel eines Buches von Thornton Wilder wiedergefunden: "Wir sind noch einmal davongekommen!"

Wir spürten, dass auf uns eine harte, schwere Zeit wartete, die wir als Familie meistern konnten, wenn jeder von uns mit anpacken würde. Rückblickend waren alle Familienmitglieder überzeugt, dass das erste halbe Jahr nach der Befreiung die schönste Zeit unseres Lebens gewesen ist. Trotz totaler Ausbombung unseres Betriebes das Glück zu haben, dass die Privatwohnungen nur beschädigt waren, auf engem Raum zusammenzuleben, ohne Strom bei harter körperlicher Arbeit, sich ohne Bomber frei bewegen zu können, keine Angst mehr zu haben, wegen einer Äußerung von der Gestapo abgeholt zu werden - das war trotz Hungergefühls eine wunderbare Zeit! Wir sind heute dankbar, dass wir die Nazi-Diktatur und den schrecklichen Krieg mit über 55 Millionen Toten überlebt haben.

(RP)
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