Mönchengladbach Wenn die Schule zum Zirkus kommt

Mönchengladbach · Die Schulpflicht gilt auch für Artistenkinder, die viel unterwegs sind. Um sie kümmert sich die "Schule für Circuskinder NRW" der evangelischen Kirche.

 Zweimal pro Woche kommt Lehrer Franz Josef Bork für einen Vormittag vorbei, um Leroy (14) und Lucia zu unterrichten.

Zweimal pro Woche kommt Lehrer Franz Josef Bork für einen Vormittag vorbei, um Leroy (14) und Lucia zu unterrichten.

Foto: Detlef Ilgner

Zur Wohnwagenstadt des Zirkus Altoff an der Lürriper Straße hat sich am Freitagvormittag ein VW-Bus gesellt. "Schule für Circuskinder" steht darauf. Im hinteren Teil des Busses sind ein Tisch und ein paar Stühle untergebracht. Hier sitzen der 14-jährige Leroy und die siebenjährige Lucia zusammen mit Lehrer Franz Josef Bork. Leroy beugt sich über Geometrieaufgaben, Lucia liest ihre ersten Sätze in der Fibel. Obwohl eigentlich schon Sommerferien sind, haben die beiden jüngsten Mitglieder der Zirkusfamilie noch Unterricht.

Mönchengladbach: Wenn die Schule zum Zirkus kommt
Foto: The Toronto Star

In der Schule für Circuskinder, die von der Evangelischen Kirche im Rheinland getragen und betrieben wird, ist eben so manches anders als in einer Regelschule. Lehrer Franz Josef Bork betreut 20 Schüler: einige in Fernlernkursen, andere wie Leroy und Lucia vor Ort. Zu den Altoff-Kinder kommt er zweimal pro Woche für einen Vormittag, für jedes der Kinder mit dem passenden Lernstoff versehen. Für die übrigen Tage bekommen sie Lernpakete, Aufgaben, die sie eigenständig bearbeiten müssen. Verlässt der Zirkus für einige Zeit Nordrhein-Westfalen, erhalten die Schüler ein Schultagebuch mit Anweisungen ihres Lehrers. "Sie gehen dann vor Ort in die jeweiligen Stützpunktschulen", erklärt Bork. "Die Lehrer dort sehen, wie weit die Schüler sind, und können sie entsprechend weiter arbeiten lassen. Zum Schluss bekomme ich einen Bericht über ihre Fortschritte." Gerade in der Phase der Alphabetisierung sei das besonders wichtig. "Sonst lernen die Kinder, wenn sie Pech haben, überall den gleichen Buchstaben und kommen nicht voran", sagt der Lehrer.

Ein großer Pluspunkt der Zirkusschule ist der enge Kontakt zwischen Lehrer und Schülern. Es gibt zwar auch etwas größere Gruppen als die von Leroy und Lucia, aber mehr als fünf bis sechs Kinder sind es nie. "Man kann als Schüler nicht abtauchen wie in einer Klasse von 30, wenn man mal einen schlechten Tag hat", meint Franz Josef Bork augenzwinkernd. Er kennt den Leistungsstand seiner einzelnen Schüler sehr genau. "Darum muss ich nicht immerzu Tests schreiben lassen", meint er. Bis zum Realschulabschluss kann er seine Schüler bringen. In der zehnten Klasse schreiben die Zirkusschüler genau wie alle anderen Schüler Nordrhein-Westfalens die Zentralen Prüfungen mit. Und sie haben die gleichen Erfolge aufzuweisen wie die anderen. "Die Abschlussquote liegt im Durchschnitt", sagt Bork. "Es gibt leistungsstarke und leistungsschwache Schüler, genau wie überall." Eines kann aus den Zirkuskindern allerdings nicht werden - ein Schulverweigerer. Schließlich steht der Lehrer unerbittlich morgens auf der Matte. Unter Umständen auch in den Ferien wie gerade jetzt. "Das können wir individuell planen", erklärt der Lehrer. "Wir müssen uns nicht nach den Ferienzeiten richten." Der Kontakt zu den Eltern ist stets sehr eng. "Ich kenne die Familie Altoff und Lucias ältere Geschwister sehr gut", sagt Bork, der seit 15 Jahren bei der Zirkusschule der evangelischen Kirche arbeitet. "Ich weiß auch, ob ein Bruder oder eine Schwester Lucia bei bestimmten Dingen unterstützen kann."

Da ein Zirkus immer auf Reisen ist und im Allgemeinen nur eine Woche an einem Ort bleibt, bevor er wieder weiterzieht, sind auch Franz Josef Bork und seine 30 Kollegen viel unterwegs. "Tausend Kilometer pro Woche kommen da schon zusammen", meint er. Allerdings bieten die modernen Medien heute auch verstärkt die Möglichkeit, zu unterrichten, ohne dem Zirkus hinterher reisen zu müssen. Das Internet macht's möglich. "Das sind schon fast australische Verhältnisse", lacht Bork. In Australien werden die Schüler auf abgelegenen Farmen per Funk und neuerdings auch per Internet unterrichtet.

Für die Lebensweise der Zirkusleute hat der Lehrer einen großen Respekt. "Sie setzen andere Prioritäten als die bürgerliche Mittelschicht", stellt er fest. "Aber ich habe hier sehr lebenslustige und hochzufriedene Menschen kennengelernt, die gesellschaftlicher Stellung wenig Beachtung schenken, sondern jedem Menschen als Menschen begegnen. Ich finde das klasse."

(arie)
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