Mönchengladbach Warum ich?

Mönchengladbach · Wer Mia L. nicht kennt, würde sie für eine normale junge Frau halten. Doch die 17-Jährige leidet seit vier Jahren unter Depressionen. Mehrfach versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Mit ihrer Geschichte will sie anderen Mut machen.

Sie ist eine bildschöne, junge Frau: lange, dunkle Haare, strahlend blaue Augen und ein blasser Teint. Nicht so blass, dass sie krank wirkt. Eine gesunde Blässe. Ein bisschen wie eine Porzellanpuppe. Weiße Bluse, rote Jeans - dazu der passende Nagellack, der langsam abblättert. Wer Mia L. (Name von der Redaktion geändert) nicht kennt, wird denken, sie ist eine ganz normale 17-Jährige. Die sich vielleicht mit einer Freundin gleich zum Shoppen trifft oder mit ihrem Freund auf einen Kaffee.

Mia L. aber hat keinen Freund - und auch keine Freundin. Weil sie ihre gesamte Jugend verpasst hat. Als sie 13 war, wurde Mia krank. Sie leidet unter Depressionen, die ihr Leben so sehr beeinflussten, dass sie vier stationäre Klinikaufenthalte hatte, dazu unzählige ambulante Therapeuten. Die ihr Leben so sehr steuerten, dass sie es sich mehrfach nehmen wollte. "Ich habe Zigaretten gegessen", sagt Mia. Im Moment ist die 17-Jährige zuhause, bei ihren Eltern. "Sie ist wie ausgewechselt", sagt Mias Mutter Elisabeth. Und ihr Vater Ralf ist ganz sicher: "Du wirst bald wieder die Alte sein." Er hat Tränen in den Augen. Denn Mia kehrte schon häufig wieder zurück nach Hause. Und immer wieder mussten die Eltern ihr geliebtes Kind gehenlassen.

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Foto: Shutterstock/Themalni

Dabei war Mia so aktiv, als sie klein war: Freunde, Sport, Musik - nie konnte sie genug zu tun haben. "Wenn die eine Freundin weg war, kam schon die nächste zu Besuch", erinnert sich Ralf. "Mia war früher einfach da", sagt die Mutter. Eine Quasselstrippe, der man ab und an auch mal den Mund verbieten musste. Und plötzlich änderte sich alles. Zumindest für Mia. Während ihre Eltern dachten, es liege an der Pubertät - schließlich sei es nicht unnormal, wenn Kinder sich mit 13 zurückziehen - durchlebte der Teenager die Hölle.

"Es war der 5. November 2011", sagt Mia. "Der Geburtstag eines ehemaligen Freundes." Sie war traurig, einfach so. "Ich konnte meine Traurigkeit gar nicht mehr kontrollieren." Obwohl die Party eigentlich ganz toll gewesen sei. Sie wollte einen Augenblick für sich allein, ging vor die Tür. Dort rieb sie im Schutz der Dunkelheit ihre Arme an einem Baumstamm, so lange, bis kleine Wunden entstanden. Das war der Anfang. Aus dem Baumstamm wurden Glasscherben. Irgendwann klingelte das Telefon: "Die Schule sagte uns, Mia hätte sich geschnitten", erzählt die Mutter.

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Foto: Shutterstock.com/ Tigger11th

Elisabeth dachte sich noch immer nichts dabei, bis sie Mia bat, ihr den Schnitt zu zeigen. "Es war nicht ein Schnitt, es waren zehn Schnitte. Das ganze Handgelenk hoch", sagt die Mutter, die jetzt begriff, dass Mia, dass die Familie Hilfe braucht. Für Mia wurde das Ritzen zur Sucht. "Ich wollte mich spüren, das Blut sehen", erzählt die 17-Jährige. Ein Ventil, wenn sie traurig war, verzweifelt, gestresst. Danach ging es ihr besser, aber nur für einen kurzen Moment. "Ich habe es immer bereut." Für ihre Eltern nicht nachvollziehbar, "aber wir haben versucht, Verständnis zu zeigen", sagt Ralf. Gleichzeitig suchten die Eltern bei sich den Fehler, "an welchem Punkt haben wir etwas falsch gemacht", fragte sich Elisabeth wieder und wieder. Besonders schwierig ist es für die Familie, dass die Krankheit von der Öffentlichkeit nicht akzeptiert wird.

Zwei Jahre dauerte es bis zum ersten Klinikaufenthalt, "nach dem ersten Gespräch in der Beratung hätte ich nie gedacht, dass Mia irgendwann eingewiesen werden müsste", sagt Elisabeth, weil sie hoffte, Mia stecke in irgendeiner Phase. Die Klinik war Mias Idee. Viel später erst erfuhren die Eltern den Grund dafür: Mia wurde missbraucht. Von Fremden. Über dieses Kapitel ihres jungen Lebens kann, will Mia aber nicht reden - verständlich. Inzwischen hatten sich all die Freunde von Mia abgewandt, "das hat es noch schwerer gemacht." Und bald hatte Mia Gewissheit: Sie ist depressiv. "An vieles kann ich mich heute gar nicht mehr so genau erinnern", sagt Mia. Weil es so schwierig ist, das alles in Worte zu fassen, und die starken Medikamente vieles vernebelten. Warum sie keine Freunde mehr hat, dafür hat Mia keine Erklärung. "Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe." Vielleicht waren sie überfordert, vielleicht hat Mias Depression nicht in die heile Teenie-Welt gepasst. Und nicht nur die Krankheit, Mia selbst passte dort schon lange nicht mehr rein.

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Foto: Shutterstock/Sinisha Karisch

In der Klinik hatte Mia einen strengen Tagesablauf: Frühstück, Lernen, Mittagessen, Therapiegespräche, Abendbrot, Schlafen. Mia war so erschöpft, dass sie kaum 15 Minuten spazieren gehen konnte. Jeden Abend, bevor Mia ins Bett ging, musste sie einen Vertrag unterschreiben. Ihren Anti-Suizidvertrag: "Hiermit verspreche ich, Mia K., mir nichts anzutun und keine Zigaretten zu essen und mich zu melden, wenn es mir schlechter geht." Und irgendwann wollte sich Mia nicht mehr das Leben nehmen, weil sie begriff. "Wie schlimm muss es für meine Eltern sein, wenn sie mich nicht mehr haben? Ich habe oft in Filmen gesehen, wie verzweifelt Eltern sind, wenn ihr Kind sie verlässt, und das kann ich ihnen einfach nicht antun."

Mia L. ist nicht gesund. Noch lange nicht. Im Augenblick geht es ihr gut, ihre Lebensfreude kommt wieder. Aber es kann, es wird ihr auch wieder schlechter gehen. In einer Woche, einem Monat, einem Jahr. "Ich habe selber Angst davor", sagt Mia. Aber sie hat gelernt, dass es danach auch wieder bessere Zeiten geben wird. Mia hat trotz ihrer Krankheit ihren Realschulabschluss gemacht, jetzt absolviert sie ein Freiwilliges Soziales Jahr. "Ich freue mich, wenn ich anderen helfen kann", sagt Mia. Deswegen erzählt sie ihre Geschichte, lässt andere an ihrem Schicksal teilhaben. Oft stellte sich Mia die Frage: "Warum ich?" Eine Antwort hat sie nie gefunden. Aber sie sucht auch nicht mehr danach. Sie hat gelernt, nicht so viel darüber nachzudenken. "Das macht es nicht besser", sagt Mia. Aber sie rät Betroffenen, sich Hilfe zu suchen. Bei Lehrern, Freunden oder der der eigenen Familie.

(RP)
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