Mönchengladbach Solidarität als ethische Basis für Europa

Mönchengladbach · Osteuropa 25 Jahre nach der Wende ist das Thema der Sozialethischen Gespräche. Zum Auftakt gestern ging es um europäische Solidarität im Zeichen der Ukraine-Krise. Heute spricht der ukrainische Botschafter im Rathaus Abtei.

Schwerbewaffnete Rebellen bei Donezk: Die prorussischen Milizionäre wollen die Ost-Ukraine von der Kiewer Republik abspalten.

Schwerbewaffnete Rebellen bei Donezk: Die prorussischen Milizionäre wollen die Ost-Ukraine von der Kiewer Republik abspalten.

Foto: dpa

Monsignore Professor Peter Schallenberg hatte eine Zeitungsnachricht aus der Neuen Berliner Zeitung vom Dezember 1920 ausgegraben. Die Notiz liest sich hochaktuell: "Manchmal wird eine Nation modern; Polen und Russland waren es eine Zeit lang, jetzt ist es die Ukraine geworden."

 Letzte Beratungen vor dem Start der Tagung (v.l.: OB Hans Wilhelm Reiners, Bischof Janusz Stepnowski, Dr. Arnd Küppers (KSZ). Rechts (stehend) KSZ-Direktor Professor Dr. Peter Schallenberg.

Letzte Beratungen vor dem Start der Tagung (v.l.: OB Hans Wilhelm Reiners, Bischof Janusz Stepnowski, Dr. Arnd Küppers (KSZ). Rechts (stehend) KSZ-Direktor Professor Dr. Peter Schallenberg.

Foto: Jörg Knappe

Alle drei genannten Länder beschäftigen (neben Rumänien und Bulgarien) seit gestern die rund 70 Teilnehmer der Sozialethischen Gespräche im Ratssaal der Abtei. 25 Jahre nach der Wende stellen sich in Mittel- und Osteuropa nach einer Phase der politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung neue Herausforderungen. Über diesen laufenden Transformationsprozess, auch über Störungen - siehe Krim-Annexion und Abspaltungsbestrebungen in der Ostukraine - beraten die Sozialwissenschaftler, Bischöfe, Diplomaten und Ökonomen, welche die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle (KSZ) eingeladen hat. In Zusammenarbeit mit COMECE, der Kommission der Bischofskonferenzen in der EU.

Die sozialkatholische Tradition der Stadt sprach Oberbürgermeister Hans Wilhelm Reiners in seinem Grußwort an, als er daran erinnerte, dass in Gladbach vor 125 Jahren der Volksverein für das katholische Deutschland gegründet wurde.

Bischof Dr. Janusz Stepnowski aus der Diözese Lomza (Nordostpolen) begann seinen Vortrag mit den Worten, dass die Idee der europäischen Solidarität schon vor der Entstehung Europas eine wichtige Rolle gespielt habe. So seien die Wurzeln der europäischen Solidarität im römischen Reich grundgelegt. Die leitende Idee hierbei: Die Verantwortung des Einzelnen sollte verteilt werden. Die Perspektive des Menschen als soziales Wesen wurde entwickelt. In der Folge wurde Solidarität als Ausformung der christlichen Nächstenliebe (Caritas) angesehen. Sie sei wichtig, weil Menschen voneinander abhängig seien. Der 56-Jährige erinnerte daran, dass kein Gesetz Solidarität schaffe.

Wie Bischof Stepnowski ausführte, seien Hinweise auf Solidarität auch im Vertrag von Lissabon zu finden. Allerdings gebe es keine Regel, wie Solidarität umzusetzen ist. Besonders wenn sie Schwächeren zugute kommen soll. Eine wichtige Frage lautet Stepnowski zufolge, ob allen Mitgliedern Europas die gleiche Solidarität widerfährt. Dies beunruhige etwa die baltischen Staaten, die sich vom Vorgehen Russlands in der Ost-Ukraine bedroht fühlen und nun den Schutz der Nato einfordern. "Länder der alten EU haben die Solidarität gebrochen", urteilt Stepnowski, der hiermit der Linie der polnischen Regierung folgt. Als weiteres Beispiel für Blauäugigkeit des Westens nennt er die kriegerischen Eingriffe russischer Truppen in Georgien. Erst der Abschuss des malaysischen Flugzeugs über der Ukraine habe den Westen schließlich "aufgeweckt".

Eine "vorläufige Bilanz" des Sachstandes in Osteuropa zog Dr. Jörg Basten, Länderreferent des katholischen Osteuropa-Hilfswerks Renovabis, in seinem Referat. Die Entwicklung hin zu Demokratie und Marktwirtschaft sei in Osteuropa auch mit tatkräftiger Unterstützung von Kirchenleuten verlaufen. Aber gewiss habe - neben der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc und den flammenden Freiheitsappellen von Papst Johannes Paul II. (der Pole war) - auch die Perestroika in Russland eine positive Rolle bei diesem Prozess gespielt. Überhaupt hätten die Kirchen, die in Zeiten der sowjetischen Vorherrschaft enteignet und drangsaliert wurden, in allen 29 mittel- und osteuropäischen Ländern von der Wende profitiert. Ganz wichtig dabei sei, dass Kirchenvertreter wie der Bischof von Königgrätz (Hradec Králové) in Tschechien enorme Anstrengungen unternommen hätten, um Versöhnung zu schaffen.

Andererseits zeigten Umfragen, dass Begriffe wie Demokratie und Freiheit vielen Menschen in Osteuropa heute nicht mehr so wichtig sind wie noch um 1990. Die Entwicklung bleibt also spannend.

(RP)
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