Mihkel Kütson Musik füttert die Seele

Mönchengladbach · Der Generalmusikdirektor spricht über den Rosenkavalier, Gestaltungswillen der Niederrheinischen Sinfoniker und Musik als Bestandteil menschlichen Seins.

Die Hälfte Ihrer vierten Spielzeit am Niederrhein ist fast um. Haben Sie nach Ihrem Empfinden schon den Höhepunkt dieser Saison mit dem "Maskenball" gemeistert oder steht der Gipfel Ihrer Aufgaben in 2015/16 noch bevor. Vielleicht wird es ja der "Rosenkavalier"?

Mihkel Kütson Die Intensität baut sich auf. Es kommen noch sehr anspruchsvolle Aufgaben. Der Rosenkavalier ist wunderschön, aber sehr komplex. Und auch das Musikdrama "Katja Kabanowa" ist eine besondere Herausforderung.

Wie würden Sie die Musik von Richard Strauss in seinem ein wenig endzeitlich gestimmten und doch auch sehr komödiantisch aufgestellten Rosenkavalier beschreiben?

Kütson Der Rosenkavalier schwebt musikalisch zwischen den Zeiten. Er blickt gleichzeitig zurück und nach vorn. Der Text ist unglaublich klug, witzig und ergreifend. Hinter dem Komödiantischen steckt ein sehr rührendes Drama. Und die Partitur ist sehr komplex.

Wenn Sie zurückblicken auf Ihren Start hier im August 2012 - wo stand das Orchester damals und wo steht es gegenwärtig? Sie werden öfter eingeladen, die Staatskapelle Dresden bei Aufführungen in der Semperoper zu dirigieren. Dazu haben Sie einmal gesagt: Die Staatskapelle ist Champions League. In welcher Liga spielen Ihrer Einschätzung nach die Niederrheinischen Sinfoniker?

Kütson Man sollte das mit der Fußballterminologie nicht übertreiben. Die Niederrheinischen Sinfoniker liegen sehr gut über dem Durchschnitt der Orchester in Deutschland. Es gibt vor allem etwas, was man sonst kaum findet, nämlich ein ungewöhnliches Zusammengehörigkeitsgefühl und einen Gestaltungswillen. Es ist sehr faszinierend zu erleben, wie homogen das Orchester agieren kann und wie es in die gleiche Richtung blickt. Natürlich gibt es auch Spannungen, wie überall, wo so viele Menschen zusammenarbeiten. Aber der Austausch ist offen, man ist stets miteinander im Gespräch. Wenn es Probleme gibt, werden sie benannt.

Das Orchester lässt sich auch sehr auf Gastdirigenten ein.

Kütson Ja, der Wille, Musik gut zu machen, ist nicht personengebunden. Natürlich hängt das Ergebnis von der Qualität des Gastdirigenten ab. Die Aufgabe des Dirigenten ist es, den Energiefluss des Orchesters zu regeln.

Sie dirigieren manchmal mit Taktstock, manchmal ohne. Wann setzen Sie den Taktstock ein, wann nicht?

Kütson Das Dirigieren hat einen körperlichen Aspekt. Man nutzt den Körper zur Formung der Musik im Voraus. Der Körper zeigt, wie die Musik fließen soll. Beim Dirigenten müssen vor allem die Hände gut sprechen können. Der Taktstock ist ein Arbeitsmittel wie ein Pinsel. Mit ihm kann man sehr fein und sehr klar zeichnen. Manchmal braucht man das, manchmal nicht.

Sie selbst werden öfter zu Gastdirigaten engagiert, zum Beispiel nach Dresden für Humperdincks "Königskinder" und Webers "Freischütz". Was bedeutet Ihnen das?

Kütson In Dresden ist der Freischütz fast etwas Heiliges. Er war schon immer im Repertoire. Die Neue Semperoper ist mit dem Freischütz eröffnet worden. Deswegen ist es eine besondere Ehre, ihn zu dirigieren. Alle großen Häuser in Deutschland arbeiten häufig mit Gastdirigenten. Das ist eine schöne Normalität.

Als Generalmusikdirektor sind Sie beileibe nicht nur Dirigent, Chor- und Orchesterleiter. Wie viel Prozent Ihrer Arbeit können Sie auf die künstlerische Arbeit verwenden, und wie viel Anteil entfällt auf die wahrscheinlich weniger geliebte Verwaltungstätigkeit?

Kütson Ich bin in der glücklichen Lage, wunderbare Mitarbeiter zu haben, die sehr viele Aufgaben in enger Absprache erledigen. Für die künstlerische Planung bin ich zusammen mit dem Intendanten und dem Operndirektor aber persönlich verantwortlich, damit am Ende ein spannendes und interessantes Programm für das Publikum und im positiven Sinn herausforderndes für Mitarbeiter des Hauses angeboten wird.

Werden Sie mit den Sinfonikern und Gesangssolisten auch in diesem Sommer wieder bei der Sommermusik Schloss Rheydt mitwirken?

Kütson Die Kooperation hat sich in zehn Jahren bewährt. Eigentlich hat ja alles mit den Sinfonikern und einem Klassik-Open-Air angefangen. Daraus hat sich eine großartige Veranstaltung mit einem sehr abwechslungsreichen Programm entwickelt. Bei unserem Programm versuchen wir, viele Facetten zu zeigen und Stilrichtungen zu wechseln.

Ihr nächstes Sinfoniekonzert werden Sie Ende April leiten, das vierte haben Sie an Kapellmeister Alexander Steinitz abgetreten. Für das 5. Sinfoniekonzert haben Sie mit Alexej Gerassimez einen Schlagzeuger als Solisten verpflichtet. Eine sicher ungewöhnliche Konstellation.

Kütson Alexej Gerassimez war bereits vor einem Jahr bei uns und hatte großen Erfolg. Die Leute waren so verblüfft und begeistert, dass mir gar nichts anderes übrigblieb, als ihn wieder einzuladen (lacht). Ich habe immer das Bestreben, auch ungewöhnlicheren Instrumenten ein Podium zu bieten. Im letzten Jahr war ein Tubaspieler zu Gast, der Unglaubliches auf seinem Instrument leistete.

Der von Ihnen initiierte Wettbewerb "Bühne frei" hat sich rasch zum Erfolgsmodell entwickelt. Haben Sie schon Rückmeldungen von den vergangenen Jahren, ob einer der jungen Nachwuchsmusiker tatsächlich den Weg einer Profi-Ausbildung beschreitet?

Kütson Wir führen diesen Wettbewerb jetzt zum vierten Mal durch und ich glaube schon, dass aus diesem Kreis etliche Profimusiker werden. Es gibt unter den Begabten besondere Talente, die zu entdecken ein Glücksfall ist, wie den elfjährigen Geiger und Pianisten Ryokan Yamakata. Mit dem Wettbewerb geht es uns eigentlich darum, die Musikerziehung noch stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.

Apropos Kinderkonzerte: Ist das umgestellte Konzept erfolgreich? Neuerdings werden ja alle Kinderkonzerte jeweils im Doppelpack - nämlich zweimal hintereinander - aufgeführt.

Kütson Wir haben auf die enorme Nachfrage reagiert. Dadurch, dass die Konzerte jetzt zweimal hintereinander stattfinden, bekommt auch jeder, der möchte, eine Karte.

Sie kommen aus Estland. Wann werden wir in einem Sinfoniekonzert oder Chorkonzert ein Werk eines estnischen Komponisten erleben? Unter Ihrem verstorbenen Vorgänger Graham Jackson gab es eine Menge Stücke englischer Komponisten im Programm.

Kütson Wir haben Esten im Programm gehabt, aber das ist jetzt für mich nichts, was ich besonders feiern müsste.

Estland hat eine große Volkslied- und Gesangstradition.

Kütson Ja, es wird sehr viel gesungen. Das fängt schon im Kindergarten an. Jede Schule, die etwas auf sich hält, hat einen oder sogar mehrere Schulchöre. Alle fünf Jahre findet in Tallin ein großes Chorfest statt. Das gemeinsame Liedgut wird gepflegt, und es gibt einen lebendigen Austausch. Das Singen im Chor ist ein Gemeinschaftserlebnis und das verbindet Menschen.

Wie erleben Sie den Umgang mit Kunst und Musik in Deutschland?

Kütson Ich meine, dass Kunst und Musik in der Schule nicht genug gewürdigt werden. Der Einfluss der Wirtschaft ist hier viel zu groß, meine ich. Aber es ist ja auch gefährlich, wenn Menschen frei zu denken und zu fühlen lernen. Das kann ganze Gesellschaften in Bewegung bringen. Musik füttert die Seele. Sie hat die Gabe, in uns einzudringen über Kanäle, die keine Filter haben. Sie kann ganz verschiedenen Saiten in uns zum Schwingen bringen. Wenn wir wirklich zuhören, öffnen wir uns. Und wenn wir gemeinsam zuhören, ist das ein ganz besonderes Erlebnis. Darum kann man den Konzertbesuch auch nicht durch eine CD ersetzen. Das Emotionale in der Kunst bleibt ein wichtiger Bestandteil menschlichen Seins.

DAS GESPRÄCH FÜHRTEN DIRK RICHERDT, ANGELA RIETDORF UND INGE SCHNETTLER.

(arie)
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