Mönchengladbach Die Götter nehmen die Popcorn-Opfergabe nicht an

Mönchengladbach · Uraufführung: Mit viel Körpereinsatz spielen Nele Jung und Adrian Linke das Stück "Das Pferd des Heiligen".

Man könnte meinen, in Äquatornähe zu sein, irgendwo an der brasilianischen Atlantikküste. Tropische Pflanzen bekränzen Lydia Merkels Spiel-Raum, ein Ara hockt im Käfig, ein Paar in sommerlich leichtem Leinen schläft auf dem Fußboden. Nach dem Erwachen spielt sich Inacio (Adrian Linke) im Verlauf des Stücks "Cavalo de Santo" der brasilianischen Schauspielerin Viviane Juguero - heftig zuckend Samba, Merengue und Capoeira tanzend -so in Rage, dass er bald schweißüberströmt ist. Seine Partnerin, Nele Jung, bewegt sich als kesse Favela-Gestrandete Graça nicht minder virtuos und vor allem in der Verführungsszene sehr attraktiv - aber transpiriert dabei weniger. Juguero und ihr Landsmann aus Porto Alegre, der 47-jährige Regisseur Jessé Oliveira, sind angetreten, erstmals in Europa, in Deutschland, in Mönchengladbach von ihrem vielgestaltigen Land zu erzählen. Dies geschieht aus der Haltung der Afrobrasilianer heraus, deren Selbstverständnis von kultischen Bräuchen bestimmt ist, die das christliche Element nur als Verpackung für aus Afrika übernommene polytheistische Traditionen verstehen. So opfert der versoffene Inacio von seinem Bier, Caipirinha oder dem frisch hergestellten Popcorn stets ein wenig dem im Herrgottswinkel aufgestellten heiligen Georg, der aber im nächsten Moment zu einem Orixa, einem Gott oder Dämon, mutieren kann. Diese Misch-Religiosität lebt das streitbare Liebespaar in wechselnden Szenarien aus. Es scheint, dass fremde Identitäten von den beiden Besitz ergreifen. Ein Kniff, dank dem Oliveira mehr von den Problemen und Klischees in Brasilien schildern kann, als dies in einer reinen Beziehungskisten-Handlung möglich wäre.

Diese Klischeevorstellungen werden beim Publikum der Uraufführung, darunter Oberbürgermeister Hans Wilhelm Reiners, eher bedient als ausgeräumt oder geklärt: Da ist der fußballbegeisterte Inacio, der sich über die technische Unzulänglichkeit des Fernsehers ereifert, da verwandelt sich seine Geliebte Graça in einen bigotten evangelikalen Missionar, der den verlotterten Macho Inacio vor der Verdammnis retten möchte. Da geht dieser brutal auf seine Partnerin los - nur mit einem schmerzhaften Tritt kann sie einer Vergewaltigung entgehen. In der nächsten Szene baggert sie der Mann als nur scheinbar harmloser französischer Tourist an. Abstrus wird es, als Graça gleichsam von Salven der Sambatrommeln aus dem Lautsprecher "erschossen" wird. In der nächsten Szene lugt von ihrer "Leiche" nur der Unterleib (einer Puppe) hinter dem Paravent hervor. Eine Polizistin, die Einlass begehrt, lässt sich bestechen - und "übersieht" das Verbrechen.

In der Schlussphase wird es vollends bizarr, als der historische König Brasiliens, Dom Pedro I., und ein faschistischer Hassprediger mit Hitlerpose und -diktion auftreten. Die Szenen des Zweipersonenstücks werden bravourös ausgespielt, so dass die Akteure für ihre famose Leistung zurecht viel Applaus erhalten. Von der Botschaft des Stücks nehmen wir die Erkenntnis mit, dass Brasilien ein Land ist, das in einem schmerzhaften Prozess der Neu- und Selbstfindung steckt. Und in dem die Orixas das Popcorn-Manna den Menschen dankend zurück auf die Erde kippen.

Vorstellungen: 28. Februar, 18. März, 12. und 24. April, 20 Uhr, Theater. Am 3. Februar, 20 Uhr, gibt es im Konzertsaal einen Abend über brasilianische Kultur mit Jessé Oliveira, Gilson Sousa, Matthias Gehrt und Mitgliedern der Niederrheinischen Sinfoniker.

(RP)
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