Mönchengladbach Kopfkino Karneval

Mönchengladbach · Zum ersten Mal wurde der Veilchendienstagszug für Blinde und Sehbehinderte, die gar nichts oder nur verschwommen sehen, mit einer Audiodeskription übersetzt.

So feierten die Jecken beim Veilchendienstagszug 2016
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So feierten die Jecken beim Veilchendienstagszug 2016

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Die Bonbons fliegen Manfred Meyer um die rote Hutkrempe. Aber er bückt sich nicht, um sie aufzuheben. Zwei Mariechen tanzen radschlagend vor seiner Nase, dahinter zieht die Blaskapelle vorbei. Er lächelt fröhlich beseelt, hört zu, klopft mit seinem Stock im Takt auf den Boden. Der Regen tropft von seiner Hutkrempe, darunter trägt er einen Kopfhörer. Und die Stimme in dem Kopfhörer flüstert ihm zu: "Und da fliegen auch schon Klobrillen vom Wagen. Nein, äh Klobürsten sind das natürlich." Der 73-Jährige lacht sich kaputt. Der war gut.

Wie sieht ein Karnevalszug aus? Manfred Meyer weiß es nicht, seine leicht trüben Augen haben noch nie einen Zug gesehen. Und das wird sich auch nie ändern. Der 73-jähriger Gladbacher ist komplett erblindet. Seit seinem 14. Lebensjahr kann er gar nichts mehr sehen. Er kann nur ahnen, wie bunt der Zug ist. Er riecht ihn, hört ihn, fühlt ihn, er schmeckt ihn auch. Aber er will mehr: "Ohne Erklärung ist ein Zug doch langweilig. Ich will wissen, welche Farbe der Wagen hat. Sonst mache ich mir davon keine Vorstellung." Karneval war bisher für ihn dunkel. Und an diesem Veilchendienstag wird er endlich bunt.

Mönchengladbach: So schön war der Veilchendienstag 2020
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So schön war der Veilchendienstag in Mönchengladbach 2020

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Foto: Bauch, Jana (jaba)

Für Leute wie ihn, Blinde und Sehbehinderte, ist das, was da gestern am Geroweiher am Rande der großen Sitzplatztribünen passiert, eine Offenbarung: Zum ersten Mal erzählt dort eine Spezialistin haargenau, was im Zug zu sehen ist, und überträgt ihre Eindrücke via Funkmikro und Kopfhörer auf die Ohren von Manfred Meyer und vier weiteren Sehbehinderten. Audiodeskription nennt sich das und klingt so: "Und da kommt eine Gruppe mit Pferden vorbeigeritten, sie kommen von rechts nach links, es sind vor allem schwarze Pferde mit weißen Blessen, manche haben weiße Beine. Und die Reiter haben auf ihrer Uniform alle das Wappen der Stadt auf der Brust", sagt die Frauenstimme auf den Kopfhörern. Manfred Meyer staunt. Die haben sich aber schick gemacht, sagt er und lächelt.

Die Stimme, das ist Sarah Lierz (24), Sprachwissenschaftlerin mit dem Spezialgebiet Medientext und Medienübersetzung. Sie weiß genau, was Blinde hören müssen. Ihr Stiefvater ist erblindet. Und sie weiß, wie Karneval funktioniert. Zehn Jahre war sie Funkemariechen der Kreuzherren Wickrath. Es gibt vermutlich niemanden, der auch nur annähernd diese Qualifikationen für eine Karnevals-Audiodeskription hat. Kopfkino Karneval.

Veilchendienstagszug 2016 in Mönchengladbach - Impressionen
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Der Veilchendienstagszug 2016 in Gladbach

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Foto: Horst Thoren

Sie überträgt den gesamten Zug wie in einer Art Live-Radioreportage, nur reicht das, was Radio-Reporter sagen, den Blinden nicht aus. "Das Radio legt viel Wert darauf, was gerade passiert", sagt sie. "Ich muss noch mehr Details bringen. So viele Details wie möglich." Und das sind bei einem Karnevalszug ziemlich viele. Es reicht nicht, ihren Hörern zu sagen: Da kommen die Krümelmonster. Sie erzählt dazu: "Ein gefräßiger Mund auf blauem T-Shirt mit stilisierten Keksen, und auf dem Kopf tragen sie Kulleraugen." Es reicht nicht zu erwähnen, dass da eine Kutsche kommt und die Damen und Herren darin fröhlich winken. Sarah Lierz erzählt: "Die Kutsche ist ein Motiv für einen rund vier Meter hohen Karnevalswagen. Sie hat einen rot lackierten Rand, ist ansonsten weiß gehalten und trägt stilisierte Räder an der Seite."

Wer die Augen schließt und all die Eindrücke aufsaugt, der fällt hinein ins Chaos aus "Halt Pohl!", Musik, die von den Wagen ins Gesicht brüllt und der Fülle an Details, die Sarah Lierz ununterbrochen in ihr Mikrofon diktiert. Im Kopf entsteht ein Gewühl aus Eindrücken und Atmosphäre, und wer es nicht gewohnt ist, das zu Bildern zu sortieren, geht darin unter. Manfred Meyer aber kann das seit fast 60 Jahren. Und er staunt: "Toll dieser Zug. Das bleibt im Kopf hängen."

Unterdessen packt seinen Platznachbarn Erich Nikolaus (54) das Karnevalsfieber. Er ist seit zehn Jahren blind, er kann sich noch dunkel daran erinnern, wie Karneval aussieht. Immer wieder ruft er inbrünstig "Halt Pohl!" in den Zug, stampft mit seinem Stock auf den Boden und erhält zum Dank einen Schwall Bonbons von oben. "Es ist wunderbar, dass das endlich deskriptiert wird", sagt er und erzählt von der Ballettaufführung, die er auf diese Weise im Theater erlebt hat.

In diesem Moment zieht eine Fußgruppe "Minions" vorbei. Sarah Lierz berichtet: "Sie haben gelbe Pullover, gelbe Mützen, manche haben zwei große Augen auf dem Kopf, und manche nur eines." Da ruft Erich Nikolaus: "Und manche gar keines!"

Und Manfred Meyer lacht sich kaputt.

(RP)
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