Mönchengladbach Hirnforscher wettert gegen "Morbus Google"

Mönchengladbach · Manfred Spitzer sprach im St. Franziskus über digitale Demenz und die Sinnhaftigkeit von Handyverboten an Schulen.

 Die Gehirnforschung, sagt Manfred Spitzer, zeige, dass wir zum Lernen geboren sind - und gar nicht anders können, als lebenslang zu lernen.

Die Gehirnforschung, sagt Manfred Spitzer, zeige, dass wir zum Lernen geboren sind - und gar nicht anders können, als lebenslang zu lernen.

Foto: Laaser

"Kinderhirne sind so unendlich lernfähig, dass sie sogar den Verlust einer Hirnhälfte kompensieren können", sagt Professor Dr. Manfred Spitzer, renommierter Hirnforscher und begnadeter Redner, bei seinem Vortrag im Forum des Krankenhauses St. Franziskus. Der Fall, den er schildert, ist dramatisch, eindrucksvoll und gut belegt: Aufgrund einer Entzündung muss einem sehr kleinen Kind die Hälfte des Gehirns entfernt werden. Das Kind übersteht die Operation nicht nur gut, es behält auch keinerlei Einschränkungen zurück. Der verbliebene Teil des Gehirns hat die Funktionen des fehlenden voll übernommen.

Das funktioniert zwar nur bei sehr jungen Gehirnen, aber es belegt die enorme Flexibilität und Lernfähigkeit des menschlichen Hirns. Und Kindern, die mit diesem hoch entwickelten Wunderwerk geboren werden, geben Eltern neuerdings schon im Babyalter iPads zum Spielen, lassen ihnen von E-Readern Geschichten vorlesen und geben ihnen im Kindergartenalter Smartphones in die Hand. Spitzer hält von alledem nichts, und das sagt er deutlich und nachdrücklich. Das Gehirn müsse trainiert werden, betont er, und es werde beispielsweise durch komplexe Motorik trainiert. Durch Greifen und Be-Greifen, nicht durch Wischen über einen Bildschirm. Durch Vorlesen und das Gespräch mit dem Vorlesenden, nicht durch die "Read-to-me"-Funktion eines E-Books. "So geht Spracherwerb nicht", erklärt der Hirnforscher und Psychiater. "Sich selbst vorlesende E-Books sind so sinnvoll wie ein Heimtrainer mit Hilfsmotor."

Auch von der übermäßigen Verwendung von Smartphones rät der Professor ab. Er zitiert eine Studie aus England, in der die Beziehung zwischen einem Handyverbot an Schulen und den Leistungen der Schüler untersucht wird. Die statistische Auswertung belege deutlich, dass alle Schüler besser werden, wenn das Handy in der Schule verboten ist, am meisten aber profitieren die schlechten Schüler. Auch am Einsatz von Notebooks oder Tablets in den Schulen lässt Spitzer kein gutes Haar. Es gebe keine Studie, die belege, dass die Verwendung den Lernerfolg steigere, dagegen aber Hinweise darauf, dass schlechtere Schüler dadurch noch schlechter werden: "Dadurch kann man keine Chancengleichheit herstellen, das ist Wunschdenken."

Auch der so gern verwendete Vergleich des Gehirns mit einem Computer lässt den Experten nur mit dem Kopf schütteln. "Das Hirn ist keine Festplatte, es ist niemals voll", sagt er. "Je mehr Sprachen jemand beispielsweise gelernt hat, desto schneller lernt er die nächste." Deshalb müsse Wissen auch nicht in die Cloud ausgelagert werden. Oder ins Internet. Die besten Suchmaschinen helfen nichts, wenn der Nutzer nicht selbst über Wissen verfügt. "Nur durch Wissen kann man gute von schlechten Antworten unterscheiden", erklärt Spitzer. Als Mediziner könne man medizinische Themen googeln, der Laie bekommt dagegen den "Morbus Google". So bezeichnet man das Phänomen, dass man sich nach dem Googeln von Krankheitssymptomen entsprechend krank fühlt - die moderne Form der Hypochondrie. Der Professor bricht in seinem Vortrag eine Lanze für die klassischen Formen des Lernens. Durch das dauerhafte Training des Gehirns werde auch der Ausbruch von Demenz verzögert. "Je höher der Punkt ist, von dem man absteigt, desto länger dauert es, bis man unten ist", sagt er. Es gebe dann zwar die alzheimertypischen Ablagerungen und abgestorbenen Zellen im Gehirn, aber sie machten sich nicht bemerkbar. Auch das sei durch Studien belegt.

(RP)
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