Gastbeitrag Geflohen, vertrieben, neue Heimat gefunden

Mönchengladbach · Karl Boland von der Geschichtswerkstatt schreibt über das Schicksal der Ostflüchtlinge in Mönchengladbach nach 1945.

 "Tag der Heimat" der Heimatvertriebenen in der Konzertmuschel 1956.

"Tag der Heimat" der Heimatvertriebenen in der Konzertmuschel 1956.

Foto: Stadtarchiv

In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs setzte sich im Osten vor der herannahenden Roten Armee eine große Flüchtlingswelle vor allem gen Westen in Bewegung. Die Gruppe dieser Flüchtlinge waren in erster Linie deutsche Kinder, Alte und Frauen, die in den östlichen Teilen des Deutschen Reiches wohnten oder als deutsche Minderheit in den angrenzenden Ländern wie Polen, Ungarn, Rumänien, Tschechoslowakei und Jugoslawien lebten.

Zum Ende des Krieges fanden bereits sogenannte "wilde Vertreibungen" aus den deutsch besiedelten Ostgebieten statt, die dann ab Sommer 1946 gemäß der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz der alliierten Siegermächte (August 1945) in die sogenannte "ordnungsgemäße und humane Überführung" einmündeten. Flucht und Vertreibung von insgesamt rund zwölf Millionen Menschen fanden aber unter humanitär furchtbaren Bedingungen statt mit Gewalterfahrungen für die Opfer in vieler Hinsicht, unter Mangel an Lebensmitteln, Tod durch Hunger, Krankheit, Erfrieren, Mord und Totschlag.

Fast zwei Millionen Menschen sind auf dem Weg vom Osten in das nun in Besatzungszonen aufgeteilte restliche Deutschland zu Tode gekommen. Die Überlebenden verloren ihr Hab und Gut und kamen meist vollkommen mittellos im Westen an. Erst später in den 1990er Jahren wurde offen über die als Massenschicksal von flüchtenden/vertriebenen Frauen erfahrenen Vergewaltigungen vor allem durch Soldaten der Roten Armee gesprochen. Eine strafrechtliche Verfolgung der im Umfeld von Flucht und Vertreibung schuldig gewordenen Täter wurde nie in Angriff genommen.

 Behelfsheime an der Kamphausener Höhe in Odenkirchen für Flüchtlinge und Heimatvertriebene 1953.

Behelfsheime an der Kamphausener Höhe in Odenkirchen für Flüchtlinge und Heimatvertriebene 1953.

Foto: Stadtarchiv

Auf der anderen Seite fühlten sich die Deutschen nach 1945 selbst als "Opfer" und betrachteten die Flüchtlinge aus dem Osten als Konkurrenten um das Wenige, das es gab. Eine "Willkommenskultur" gab es im Westen für die Flüchtlinge nicht. Die Ostflüchtlinge wurden von den Besatzungsmächten zuerst in den ländlichen Regionen im Norden, Osten und Süden Deutschlands untergebracht, weil es hier Wohnraum gab. Später wurden sie dann auch auf städtische Regionen umverteilt, denn hier gab es Arbeitsplätze. In diesem Umfeld kamen dann auch die Flüchtlinge an den linken Niederrhein und nach Mönchengladbach und Rheydt.

Hier konkurrierten sie mit den im Kriege nach auswärts evakuiert und nun zurückgekehrten Einheimischen um die wenigen Wohnräume. Man brachte sie auch hier in Baracken, Tanzsälen, Turnhallen und Behelfsunterkünften unter. Es fehlte an allem, Lebensmittel, Kleidung, Hausrat, Möbel, Heizmaterial. In den Behelfsunterkünften gab es für die Menschen keine Privatsphäre, man lebte auf engstem Raum, getrennt durch eine Pappwand oder einen Vorhang, mit den Nachbarn. Bis in die 1950er Jahre kamen vor allem Menschen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien sowie aus dem Sudetenland nach Mönchengladbach und Rheydt und zwar in Mönchengladbach bis 1961 rund 14.500 Menschen und in Rheydt rund 8.500 Personen.

Unter diesen Menschen befanden sich auch zahlreiche, die über eine Zwischenstation in der neu entstandenen DDR dann nach Westdeutschland weiter gewandert waren, aber ebenfalls aus dem Osten stammten. Nach dem Mauerbau im Jahre 1961 ließ die Zuwanderung aus der DDR in den Westen stark nach, und es kamen aber weiterhin nicht wenige deutschstämmige Menschen im Rahmen der Übersiedlung aus Polen und anderen Ländern in den Westen. In Mönchengladbach lebten im Jahr 1970 rund 20.700 Menschen, die aus dem Osten zugewandert waren (das waren 13,7 % der Stadtbevölkerung) und in Rheydt waren das zu dieser Zeit etwa 12.000 Menschen (12 % der Stadtbevölkerung).

Durch die Zuwanderung in die Stadt änderten sich besonders in Mönchengladbach die Konfessionsverhältnisse deutlich. Durch den Zuzug von zahlreichen Protestanten wurde das immer zu fast 90 Prozent katholische Mönchengladbach deutlich evangelischer. In Rheydt änderten sich die Konfessionsverhältnisse durch den Zuzug aus dem Osten zwar kaum, doch hatte die reformiert-evangelisch geprägte Kirchengemeinde in Rheydt ihre liebe Not mit den mehrheitlich lutherisch geprägten Zugezogenen. Die zuerst provisorische und für alle unzumutbare Unterbringung der Vertriebenen konnte durch die Entstehung von neuem Wohnraum nach und nach in geordnete Verhältnisse überführt werden.

Im Rahmen von öffentlich geförderten Wohnungsbau-Kreditprogrammen schafften sich die Vertriebenen mit Hilfe der "Muskelhypothek" eigene Wohnungen als Siedlergruppen z.B. in Ohlerfeld. An anderen Stellen, zum Beispiel in Odenkirchen erinnern verschiedene Straßennamen an die heimatlichen Wohnorte der Vertriebenen in Danzig, Königsberg, Breslau und Rostock.

Auf einer Grünfläche vor dem Opernhaus in Rheydt erinnert ein Gedenkstein der Landsmannschaften an das erlittene Schicksal der Vertriebenen. In der frühen Zeit des "Wirtschaftswunders" in den 1950er Jahren fanden die Zugezogenen zwar Arbeit. Aber sie entsprach nicht immer der beruflichen Qualifikation, die Vertriebene mitbrachten. Sie waren nicht überall willkommen und wurden von den Einheimischen mitunter als "Pollacken" oder "Moskowiter" beschimpft. Soweit sie Dialekt sprachen, wirkte das auch herabsetzend. Die anderen kulturellen Werte und Praktiken (Ernährung, Kleidung, Brauchtum), die Vertriebene aus ihrer Heimat mitbrachten, taten ihr Übriges.

Die nicht selten aufgrund der erlittenen Fluchterfahrung traumatisierten Menschen fanden vor allem in den Landsmannschaften einen Ort der Begegnung und so eine Möglichkeit, mit ihrem Leid leben zu lernen. Die Flüchtlinge aus dem Osten haben einen unbändigen Willen entwickelt, sich in der neuen Heimat im Westen einzurichten und einen sozialen Wiederaufstieg zu erreichen. Das ist ihnen wohl in den meisten Fällen gelungen. Nicht selten um den Preis, die im Umfeld von Flucht und Vertreibung erlittenen seelischen Verletzungen zu beschweigen und zu verdrängen. Darunter hatten dann wiederum die Kinder dieser Menschen zu leiden, die dieses Schweigen und die gnadenlose Arbeitsorientierung der Eltern als emotionale Kälte erlebt haben. KARL BOLAND

Der Text ist ein Auszug aus dem Buchprojekt der Geschichtswerkstatt: Menschen in Mönchengladbach - Kommen und gehen verändern die Stadt, das im März 2018 im Klartext-Verlag erscheint: ISBN: 978-3-8375-1859-7

(RP)
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