Serie Denkanstoss Erinnern für die Zukunft

Mönchengladbach · Am Mittwochabend stand vor dem ehemaligen jüdischen Friedhof an der Kamphausener Straße in Odenkirchen wieder mal eine Gruppe von Mönchengladbacher Bürgern in Dunkelheit, Nässe und Kälte, um ein öffentliches Zeichen zu setzen. Sie gedachten, unterstützt vom Oberbürgermeister sowie je einem Vertreter der jüdischen Gemeinde und der Kirchen, eines Verbrechens, das vor 78 Jahren - wie fast überall Deutschland - auch in Gladbach, in Rheydt, in Odenkirchen und in Wickrath verübt wurde.

 Der Odenkirchener Gedenkstein, der an die Opfer erinnert.

Der Odenkirchener Gedenkstein, der an die Opfer erinnert.

Foto: Nöller

In meiner Jugend benutze man noch den vom Berliner Volksmund erfundenen Namen "Reichskristallnacht". Heute wird nicht weniger unpassend von der "Reichspogromnacht" gesprochen. Aber wer will die Monstrosität jener Ereignisse schon in einen geeigneten Begriff fassen?

Es geht um die hauptsächlich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zentral vom NS-Regime befohlenen und von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels persönlich gelenkten Gewaltmaßnahmen gegen alle Juden im Deutschen Reich. Aufhänger war ein Attentat eines verzweifelten 17-jährigen Juden auf einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris.

Dabei wurden nach heutigen Schätzungen durch den organisierten "Volkszorn" etwa 100 Menschen direkt ermordet oder in den Suizid getrieben. Etwa 1200 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie tausende von Geschäften, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden geplündert, zerstört, geschändet. Die Sicherheitsorgane der Nazis verschleppten ungefähr 30.000 jüdische Bürger und inhaftierten sie in Konzentrationslagern. Hunderte wurden dort ermordet oder starben später an den Folgen von Misshandlungen.

Diese ungeheuren Verbrechen, die die Rheydter Zeitung zynisch betitelte mit "Weltjuda erhielt Quittung", markieren den Übergang von der massiven Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung seit 1933 zu ihrer systematischen Verfolgung. Nach Kriegsbeginn mündete das in den Holocaust, die Ermordung des europäischen Judentums. In meiner Kindheit wurde in der Familie noch offen darüber gesprochen. Auch schwärmte meine Großmutter von dem jüdischen Kinderarzt, zu dem sie großes Vertrauen hatte, und von den vielen jüdischen Geschäften, in denen sie gerne kaufte, bevor die Nazis zum Boykott aufriefen.

Heute sind solche Zeitzeugen selten geworden. Aber noch gibt es sie: So berichtete mir kürzlich eine 90-jährige Dame, wie ihre Mutter mit ihr am Morgen nach den grauenvollen Geschehnissen bewusst durch die Rheydter Hauptstraße gegangen sei, um dem zwölfjährigen Mädchen zu zeigen was passiert war. Sie erinnert noch, wie überall Glasscherben auf den Bürgersteigen herumlagen. Außerdem hat sie noch im Ohr, was ihr die Mutter damals zuflüsterte: "Kind, jetzt schau dir das ganz genau an, was die Schweine hier angerichtet haben! Vergiss das bitte niemals!"

Diesen Auftrag verspürt sie heute noch. Voller Leidenschaft sagt sie: "Es ist furchtbar, was Hitler nicht nur über unser Land sondern über die ganze Welt gebracht hat!" Und ich denke, das ist auch unsere Botschaft heute. Ja, es ist furchtbar, was eine menschenverachtende Ideologie anrichten kann, wenn sie erst politischen Einfluss gewinnt und die Macht erobert.

Der Auftrag an jeden mündigen Staatsbürger lautet daher: Bewusst Verantwortung für unsere Demokratie übernehmen, politisch wachsam sein und mutig den Mund aufmachen, wenn derartiges Denken noch gepflegt wird oder in modernen Verkleidungen wieder neu auftaucht. Das sind wir uns und den Opfern von damals schuldig!

OLAF NÖLLER IST EVANGELISCHER PFARRER IN RHEYDT

(RP)
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