Serie Denkanstoss Ein Bericht vom Ende Europas

Mönchengladbach · Liebe Leser des Denkanstoßes! "Na, das mit den Flüchtlingen ist ja jetzt durch!" war in dieser Woche eine Dame an meinem Telefon zu hören. Ist das so? Mein Freund Martin war in Idomeni. Er hat Menschen besucht, die seit Monaten zwischen Stacheldrahtzäunen festsitzen. Ich möchte Ihnen Auszüge aus seinem Reisebericht als Denkanstoß mitgeben. Das ist ein wenig anders als sonst - aber vielleicht ist es nötig, damit wir noch einmal merken: NEIN, es ist nicht durch! Ihre Martina Wasserloos-Strunk.

Bei der letzten Tankstelle vor der Grenze bei Idomeni zeigen sich die ersten Zelte. Bunte Campingzelte und weiße Zelte des UNHCR. Neben der Autobahn laufen Menschen mit schweren Taschen, andere ohne alles. Auf der Gegenfahrbahn kommt uns ein Taxi entgegen. Mit der Not der Menschen lässt sich viel Geld verdienen...

Am Fuß von schneebedeckten Bergen liegt Idomeni. Ein kleines Dorf, das nun zu einem Sinnbild für das Leid der Menschen und die verfehlte Flüchtlingspolitik Europas geworden ist. Hunderte Zelte stehen kreuz und quer verteilt. Überall mitten drin versuchen Menschen Feuer zum Kochen zu machen. Kinder, Jugendliche und Alte sammeln Zweige und Stämme, alles was brennbar ist.

Mitten im Lager angekommen, fallen mir die unzähligen Kinder auf. Mit strahlenden Gesichtern winken sie mir zu, sie spielen mit allem, was sie finden: mit Schottersteinen, einer Apfelkiste und einem Betonrohr. Es werden gerade Kartoffeln und Zwiebeln in Tüten ausgegeben. Hunderte stellen sich in zwei Schlangen. Es ist eng und heiß und die Menschen wollen essen. Der kleine Lastwagen ist bald leer und ich merke nur vom Dabeistehen, wie angespannt die Lage ist. Ich entdecke ein kleines Mädchen, das sich in den Dreck, an die Containerwand gesetzt hat. Es isst eine rohe Kartoffel, deren Schale sie zuvor abgeknabbert hat.

Offiziell ist das Lager der geschätzten 15.000 Menschen nicht. Ein Polizeibus sichert den letzten Meter der Gleise bis zur Grenze ab, ein Hubschrauber kreist über dem Lager, organisiert ist hier nichts. Es beeindruckt mich, wie die kleine evangelische Kirche hier aktiv ist. Freiwillige geben täglich tausende von Mahlzeiten aus. Einer hat ehrenamtlich freies Internet eingerichtet, damit die Flüchtlinge mit ihren Familien in Kontakt bleiben können. Fliegende Händler hatten allein für das Aufladen des Telefons fünf Euro verlangt. Auf dem Dach eines Containers steht eine Tafel des UNHCR für wichtige Informationen, drinnen lagern Medikamente für "Ärzte ohne Grenzen" neben Kindergummistiefeln.

Die Menschen im Lager begrüßen uns freundlich. Sie wollen ihre Geschichte erzählen und machen mir deutlich: Ich soll zu Hause erzählen. Von der überlaufenden Dixi-Toilette, wo Fäkalien sich ihren Weg vorbei an einem Zelt bahnen, in dem gerade ein einjähriges Kind schläft, von Zuständen, die ich so in Europa nie für möglich gehalten hätte.

In der Ferne, vielleicht zehn Kilometer entfernt, macht mich unser Begleiter auf ein großes Casino aufmerksam. Eine bizarre Szenerie, die das himmelschreiende Unrecht zusätzlich beschreibt.

Vor dem Panzer, der auf den Gleisen die Stärke des mazedonischen Militärs demonstriert, trocknet auf Stacheldrahtzahn ein Pullover in pink, Größe 122.

Die Menschen hier sind in einer Sackgasse: Die Grenze ist zu. Die einzige offizielle Möglichkeit, via Skype einen Asylantrag zu stellen, überfordert die griechischen Behörden und manche technische Möglichkeit. Praktisch ist ihnen dieses Menschenrecht versagt.

Den Gedanken, womit ich es eigentlich verdient habe, in Frieden zu leben und in meinen Wohlstand zurückzukehren, versuche ich für die Zeit im Lager von mir wegschieben. Aber es gelingt nicht.

Dass ein Flüchtlingslager, wie das in Idomeni in Europa existiert, ist ein Skandal. Dass Menschen auf der Flucht ihre Existenz weit unter dem humanitären Mindeststandard auf unserem reichen Kontinent fristen müssen, muss uns in Europa zutiefst beschämen und uns als Kirche Jesu Christi aufrütteln!

(RP)
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