Denkanstoss Die doppelte Gnade des Lebens

Mönchengladbach · Die Tage im November tragen alle einen Trauerflor, das Vergehen und Sterben begegnen einem bei jedem Schritt. In der Natur schneidet der Frost die Blätter ab, die letzten Blüten verwelken, die Kraft der Sonne schwindet, die Tage werden kürzer. Hinzu tritt ein Gedenk- und Festtagsreigen, der uns an Krieg und Gewalt, Hass und Verfolgung mahnen will; der uns im Blick auf unsere lieben Verstorbenen zeigt, dass jeder von uns ihnen folgen wird, weil zuletzt immer der Tod auf uns wartet. Der letzte Gruß mit unserem Namen trägt immer einen Trauerrand.

"Leben, wohl dem, dem es spendet / Freude, Kinder, täglich Brot, / Doch das Beste, was es sendet, / Ist das Wissen, dass es endet, / Ist der Ausgang, ist der Tod." So dichtet Theodor Storm (1819-1898), und fasst in diesen fünf Zeilen das ganze Menschenleben zusammen. Folgerichtig beginnt das Gedicht mit "Leben" und endet mit "Tod"; und es fehlen auch nicht die Ereignisse, die ein Leben lebenswert machen: "Freude, Kinder, täglich Brot".

Aber die dritte Zeile, also genau die Mitte des Gedichtes, wird mit einem wuchtigen "Doch" eröffnet, das es in sich hat. Denn nun wird dem Leser mitgeteilt, was das Beste in einem Leben überhaupt ist: sein Ende! Das Beste am Leben soll sein Tod sein? Schließt sich Storm mit dieser Paradoxie der krausen Argumentation eines Mephisto an, der munter parliert: "Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das zu recht, denn alles, was entsteht, / Ist wert, dass es zugrunde geht, / Drum besser wär's, wenn nichts entstünde..."

In früheren Zeiten, als man weniger mit Piktogrammen als mit Worten lebte, konnte man mehr als heute über den Türen in öffentlichen Gebäuden lesen: "Ausgang". Will man ins Freie oder will man nach Hause zurück kehren, dann muss man diesen Schildern folgen. Hierin scheint mir der Schlüssel zu liegen, der uns die Verse von Storm aufschließt. Nur wer ins Leben tritt, nur wer im Sein ist, der kann durch den Ausgang in die Weite, in die Freiheit gelangen, der kann heimkehren.

Der teuflischen Logik: "Drum besser wär's, wenn nichts entstünde", wird hier die doppelte Gnade des Lebens entgegengestellt; Leben dort setzt Leben hier voraus! Deshalb dürfen und sollen wir unsere Möglichkeiten und Fähigkeiten ergreifen und mit ihnen die Welt gestalten, um dann mit dem Tod in das Leben der Ewigkeit einzugehen. Allerdings kann nur der diese doppelte Freude genießen, der um den Ausgang weiß und seinen Schildern folgt. Das ist der Grund, warum wir dankbar die Hinweise des Novembers auf die Vergänglichkeit alles Irdischen empfangen dürfen. Das ist der Grund, warum seine Tage vielleicht doch weniger einen Trauerflor tragen als einen Olivenzweig, der vom Leben kündet - jetzt und für immer!

DER AUTOR IST KATHOLISCHER PFARRER IN ST. MARIEN RHEYDT.

(RP)
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