Serie "Was macht eigentlich?" Der Menschenflüsterer und die Bestie

Mönchengladbach · 50 Morde hat Hennes Jöris aufgeklärt. Der spektakulärste Fall war der eines Serienmörders, der sechs Menschen umbrachte. Der Kommissar hat ihm in tagelangen Verhören geduldig zugehört, ihn Boote aus Streichhölzern basteln lassen und ein Geständnis bekommen.

Ein Weiher vor dem schicken und gemütlichen Einfamilienhaus in der ländlichen Umgebung von Wassenberg-Birgelen, drinnen ein nun 66-Jähriger, der stundenlang, manchmal sogar beinahe den ganzen Tag liest oder, wenn seine Frau Helga sehr drängt, mal die großen Rasenflächen mäht. Und Pfeife schmaucht, so wie sein legendärer Kollege aus Georges Simenons Kriminalromanen, der Pariser Kriminalkommissar Jules Maigret.

Der deutsche Kommissar heißt Hans-Josef Jöris, aber alle Welt nennt ihn Hennes. Er war 1982 als junger Kriminalkommissar mit Kollegen aus Mönchengladbach acht Tage lang in Paris. Sie haben am Ende mit der französischen Polizei einen 26-jährigen Vietnamesen festgenommen, der in Willich aus Habgier eine vietnamesische Familie mit schrecklicher Grausamkeit umgebracht hatte: die 31-jährige Mutter, die beiden ein und zwei Jahre alten Kinder und den 38-jährigen Vater.

Hennes Jöris war damals junger Oberkommissar. Am Ende seiner Dienstzeit war er 14 Jahre als Erster Kriminal-Hauptkommissar Leiter des KK 11 im Polizeipräsidium Mönchengladbach, im Volksmund Mordkommision. Mit 29 erlebte er die erste Mordermittlung, als 1978 am Willicher Bahnhof ein zwölfjähriger Engländer ermordet und furchtbar zugerichtet worden war. Ein schon in anderer Sache einsitzender Täter sollte für diesen Mord angeklagt und verurteilt werden.

Doch es war der falsche Mann - wie sich sechs Jahre später herausstellen sollte, als die Gladbacher Kripo eine der spektakulärsten Mordserien ihrer Geschichte aufklärte: sechs Morde zwischen 1978 und 1984, begangen von Kurt S., einem 22-Jährigen aus Willich, in Gifhorn, Essen, Dänemark, Willich und Süchteln. Daran, dass Kurt S. gestand, hatte Hennes Jöris maßgeblichen Anteil: Er verstand es meisterhaft, Verdächtige zum Reden zu bringen. Medien gaben ihm den Spitznamen "Menschenflüsterer".

Auch Hennes Jöris nennt Kurt S. eine "Bestie". Und doch hält er bis heute regelmäßigen Kontakt zu ihm: "Es gibt überhaupt keine Entschuldigung für seine Taten, aber Erklärungen. Er stammt aus ganz schlimmen Familien-Verhältnissen, lebte die meiste Zeit seiner Jugend in Heimen", erklärt er. Seit 30 Jahren besucht Hennes Jöris ihn regelmäßig, zehn bis zwölfmal im Jahr, in der psychiatrischen Landesklinik Bedburg-Hau, in der Kurt S. seit 1984 untergebracht ist. "Dort gehört er auch hin. Man darf ihn nicht freilassen. Er weiß und er akzeptiert das", sagt Jöris. "Ich bin der einzige Besucher, den Kurt in seinen nun 30 Jahren dort hatte. Wenn ich komme, bringt er immer etwas mit, selbst gebackene Plätzchen oder Kuchen, Kaffee." Einmal auch selbstgemachte Erdbeermarmelade für Helga Jöris, aus dem Garten der Klinik, den Kurt S. seit vielen Jahren pflegt.

Sie hat sie nicht gegessen. Sie akzeptiert die Besuche ihres Mannes, sagt sogar: "Kurt S. gehört fast schon zur Familie." Doch sie hat ihn noch nie besucht - dafür ist das Schreckensbild seiner Taten immer noch zu schlimm. Sie hat sich auch schwergetan, ihren zur Zeit des Prozesses geborenen Sohn Steffen mit dem Zug spielen zu lassen, den Kurt S. damals für ihn gebastelt hat.

Hennes Jöris hat an rund 250 Mordermittlungen teilgenommen in seinen drei Jahrzehnten beim 1. K. oder KK 11, wie es heute heißt. Die Aufklärungsquote: "Gut 95 Prozent hatten wir", sagt der Kommissar. "Doch daran waren alle Kollegen der Kommission beteiligt, die normal etwa 15 bis 20 Beamte groß ist. Bei Mord, dem schlimmsten Delikt, gibt es alle Unterstützung, die möglich ist. Es ist nie ein Einzelner, der einen Fall klärt. Da sind die Tatort-Ermittler mit der Spurensuche, der Fahndungsdienst. Am Ende steht dann die Vernehmung." Bei der Hennes Jöris sein Talent bewies, "das meine Vorgesetzten immer gefördert haben". Reden lassen, zuhören, Geduld haben und Vertrauen zum Beschuldigten aufbauen: Das ist das Erfolgsrezept. Ein besonderes Talent? "Es ist etwas, in das man sich hineinbeißen muss - oder es lassen", sagt der Menschenflüsterer. "Man muss manchmal schier endlos Geduld haben. In all meinen Mordfällen habe ich nur einen erlebt, der gar nicht geredet hat."

Kurt S. hat geredet, auch, weil er "bei Laune" gehalten wurde. "Wir haben ihm schon mal etwas von draußen besorgt, wenn ihm das Essen aus der Kantine nicht schmeckte." Und da waren die unzähligen Streichholz-Döschen, die Hennes Jöris kaufte, selbst bezahlte und Kurt S. gab (nachdem die Hölzchen abgebrannt worden waren). Damit durfte Kurt S. seine Boote basteln. "Am Ende wollte er nur noch reden. Über seine Oma, seine Familie. Man musste ihn einfach reden lassen, sonst hätte er Schluss gemacht und gar nichts mehr gesagt. Wenn er nicht geredet hätte, hätten wir diese Mordserie womöglich nie aufgeklärt", sagt Hennes Jöris. So aber bekam die Polizei nach vier Wochen ein komplettes Geständnis - und obendrein den Hinweis auf den tatsächlichen Mörder vom Willicher Bahnhof sechs Jahre zuvor. Der Mann, der damals in diesem Fall zu Unrecht verdächtigt worden war, kam dennoch nicht frei: Er "saß" auch wegen anderer Straftaten.

Hennes Jöris ist 2011, mit 63 Jahren, in Ruhestand gegangen. Und er blickt sehr zufrieden zurück: "Ich habe nie bereut, Polizist geworden zu sein. Es ist ein toller Beruf, auch wenn das Privatleben häufig stark darunter litt, ich oft nicht zu Hause war und auch so manche Urlaubsreise absagen musste. Als unser Sohn Steffen zwei Jahre alt war, habe ich ihn einmal drei Wochen lang nicht gesehen. Als ich dann plötzlich vor ihm stand, hat er gefragt: Papa, wo wohnst du jetzt?"

Helga Jöris hat alles mitgemacht, ihren Mann am Feierabend nicht mit Fragen gelöchert, sondern ihn abschalten lassen, wenn der "Menschenflüsterer" nicht reden wollte. Seit 41 Jahre hält die Ehe der beiden - "leider gar nicht selbstverständlich in diesem Beruf", sagt Hennes Jöris.

(RP)
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