Mönchengladbach Der durchorganisierte "Volkszorn" der Nazis

Mönchengladbach · In einer Gedenkveranstaltung am Jüdischen Friedhof in Odenkirchen wurde an die Pogromnacht am 9. November 1938 erinnert. OB Hans Wilhelm Reiners mahnt: "Antisemitismus gibt es auch heute."

 Oberbürgermeister Reiners erinnerte an die Pogromnacht 1938.

Oberbürgermeister Reiners erinnerte an die Pogromnacht 1938.

Foto: Baum

Die düstere Atmosphäre passt zum Anlass. Vor dem dunklen Tor, das zum Jüdischen Friedhof an der Kamphausener Straße in Odenkirchen führt, stehen die Bläser im Regen. Am Gedenkstein versammeln sich am feuchten und kalten Abend des 9. November 2016 die Teilnehmer der städtischen Gedenkfeier, mit der an die Pogromnacht vor 78 Jahren erinnert wird. Angeblich ein spontaner Ausbruch des Volkszorns, in Wirklichkeit erschreckend gut durchorganisiert überfielen in dieser Nacht Nazis die Synagogen, zerstörten jüdische Geschäfte, terrorisierten, plünderten, verbreiteten Angst und Schrecken. Überall in Deutschland, auch in Mönchengladbach.

In der Gedenkveranstaltung, an der auch der stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mönchengladbach Mihail Korolinskij teilnahm, erinnerte Oberbürgermeister Hans Wilhelm Reiners an Diskriminierung, schrittweise Entrechtung, systematische Verfolgung und Ermordung der deutschen Jüdinnen und Juden. "Spätestens ab dieser Nacht konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Massenmord staatsoffiziell geworden war", sagte der OB. Er zitierte aus den Erinnerungen von Hilde Sherman, die als Hildegard Zander in Wanlo geboren wurde und die Ereignisse in Wickrathberg beschreibt: "Die Regierung gab grünes Licht, die ,Volksempörung' war schon längst bis ins kleinste Detail durchorganisiert", schreibt sie und erinnert sich, wie ganze Schulklassen in die Synagoge von Wickrathberg geführt wurden, um sie weiter zu verwüsten. Schließlich wurde sie angezündet und brannte nieder.

In seiner Rede zieht Reiners aus den Geschehnissen Schlüsse für die Gegenwart. "Antisemitismus gibt es auch heute, ebenso wie die Ausgrenzung von Minderheiten", stellt er fest und fährt fort: "Jede Diskriminierung einzelner Gruppen ist deshalb ein Angriff auf unsere Gesellschaft." Er verweist auf Navid Kermani, den Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, der Europa einen wunderbaren Ort nennt, der für die Werte der Toleranz, der Vernunft, der Gleichberechtigung, aber auch der Achtung der Religionen stehe.

Auch Pfarrer Olaf Nöller, der als Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen und Mitglied der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit sprach, erinnert bewegend an das lebendige jüdische Gemeindeleben in Odenkirchen, Mönchengladbach und Rheydt und an die Opfer des braunen Terrors. "Als in der Nacht des 9. Novembers 1938 der aufgehetzte Mob der SA-Leute auch im heutigen Mönchengladbacher Stadtteil Odenkirchen die Synagoge der jüdischen Gemeinde an der heutigen Straße "Zur Burgmühle" verwüstete, da traten diese Unmenschen eine jahrhundertealte jüdische Glaubens- und Lebenskultur in den Staub und versetzten jüdische Männer, Frauen und Kinder in Todesangst", sagt Nöller.

Mit Blick auf die Gegenwart sieht er durch den grassierenden Populismus mit seinen simplen Antworten und klar umrissenen Schuldzuweisungen die multikulturelle Vielfalt und das Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien und Religionen gefährdet. Und er fordert: "Wir müssen den Mund aufmachen. Hier und heute." Um zu verhindern, dass sich die furchtbaren Ereignisse wiederholen können.

(RP)
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