Serie Macht Eigentlich? Als der nette Herr Professor auf die Barrikaden stieg

Mönchengladbach · Michael Hertl war 23 Jahre Chefarzt der Kinderklinik Neuwerk. Der freundliche Herr alter Schule hat Maßstäbe gesetzt. Nicht nur sein Kampf gegen Leukämie machte ihn bekannt. Als die Klinik 1987 geschlossen werden sollte, stieg er auf die Barrikaden - trotz eines "Maulkorbs".

1962 hat Dr. Michael Hertl, damals 36 Jahre alt und Assistenzarzt an der Heidelberger Universitätsklinik, sein erstes Buch herausgegeben. Es hieß "Das Gesicht des kranken Kindes". Den Text hat er geschrieben, die eindrucksvollen Fotos selbst gemacht - bewegende und bedrückende Bilder, die großes Leid zeigen, aber auch Hoffnung ausdrücken. Michael Hertl, Kinderarzt und Hämatologe, hat immer ganz genau in die Gesichter seiner Patienten geschaut: "Die Physiognomik gehört untrennbar zum Befundbereich der Diagnostik und Therapie hinzu", sagt der 88-Jährige.

In die Heidelberger Zeit fällt auch eine zweijährige Dozentur an der Pädagogischen Hochschule über die Probleme chronisch-kranker Kinder in der Schule, unter reger Beteiligung der Studenten in Vorlesung und Seminar.

1968 ist Dr. Michael Hertl nach Mönchengladbach gekommen: als Chefarzt der neu gegründeten Kinderklinik des Neuwerker Krankenhauses "Maria von den Aposteln", wie es damals hieß. 23 Jahre, bis zu seinem 65. Geburtstag 1991, ist er geblieben. Ein Mediziner, dem Charme, herzliche und offene Art den Zugang zu seinen kleinen Patienten ebenso erleichterten wie zu den Eltern, Politikern und seinen Kollegen, die schnell seine hohe ärztliche Kompetenz und sein großes Engagement schätzen lernten.

Bekannt über die Region hinaus wurde der Hämatologe vor allem durch seine jahrzehntelangen Forschungen zur kindlichen Leukämie. Bereits 1969 hat er ein Buch "Leukämie bei Kindern" geschrieben. "Als ich 1954 in der Universitäts-Kinderklinik Heidelberg anfing, die schon damals führend in Diagnostik und Therapie von Krebserkrankungen war, bedeutete die Diagnose Leukämie fast immer ein Todesurteil", sagt Professor Hertl. Dann kamen nach und nach neue Behandlungsmethoden, zum Teil aus den USA, die große Fortschritte brachten. Seit den 90er Jahren sind 80 Prozent der leukämiekranken Kinder zu heilen, dauerhaft. Hertl: "Je jünger das Kind ist, desto größer sind die Chancen."

Martin MacDonald war erst drei Jahre alt, als er 1972 nach Neuwerk kam, nach einer sehr unglücklich gelaufenen Strahlenbehandlung in Großbritannien. Professor Hertl konnte ihn mit den damaligen Möglichkeiten nicht retten. Doch Martins Eltern, der Schotte John MacDonald und seine Frau Erika, gründeten 1973 zusammen mit Michael Hertl nach dem Muster britischer Bürgerinitiativen die "Deutsche Leukämieforschungshilfe - Aktion für krebskranke Kinder". Die Initiative hat inzwischen bundesweit 74 Ortsvereine unter einem Dachverband, der in Mönchengladbach gegründet wurde und heute in Bonn sitzt.

Bereits 1972 war in Mönchengladbach die "Kind-Philipp-Stiftung für pädiatrisch-onkologische Forschung" gegründet worden. Philipp Reiners war 14 Jahre alt, als er trotz aller Therapie, die ihm die Medizin zu diesem Zeitpunkt geben konnte, starb. Sein Vater Dr.-Ing. Walter Reiners, Inhaber der Mönchengladbacher Textilmaschinenfabrik Schlafhorst, rief die Stiftung ins Leben, um die Erforschung der Grundlagen von Leukämie und Krebs im Kindesalter zu fördern und anderen Familien dieses Leid zu ersparen. Die Stiftung schreibt für jedes Kalenderjahr den heute mit 10 000 Euro dotierten "Kind-Philipp-Preis für pädiatrisch-onkologische Forschung" aus, vergibt Promotionsstipendien und fördert nationale und internationale Expertentagungen.

Diese Stiftung wie die Vereinsgründung der McDonalds wurden durch das leidenschaftliche Engagement Michael Hertls im Kampf gegen die Leukämie angeregt. Der Professor hat aber auch in der Neuwerker Klinik Entwicklungen angestoßen und Maßstäbe gesetzt, die über die Stadt hinaus Anerkennung fanden und für die Kinderheilkunde richtungsweisend geworden sind.

Als Hertl 1968 kam, durften die Eltern in umliegenden Kinderkliniken nur eine halbe Stunde pro Tag ihre Kinder besuchen. Der Chefarzt entschied zunächst: eine Stunde, dann unbegrenzte Besuchszeit. Und setzte schließlich - gegen heftigen Widerstand - in enger Zusammenarbeit mit dem bundesweiten Aktionskomitee "Kind im Krankenhaus" das heute übliche "Rooming-in" durch, bei dem eine Mutter bei dem Kind im Krankenhaus bleiben darf.

Doch dies ist längst nicht die einzige Neuerung, die Michael Hertl einführte. In der Kinderklinik wurde auch eine eigene Krankenhausschule mit Rektorin und drei Lehrkräften eingerichtet, auch dies gegen anfänglichen Widerstand, diesmal vom Schulamt der Stadt. Doch mit seiner Beharrlichkeit und Konsequenz überzeugte Hertl am Ende auch hier: "Viele Kinder müssen eine lange Zeit bei uns im Krankenhaus bleiben, können nicht in ihre normale Schule. Die Lücken, die dadurch bei ihnen entstehen, sind sehr schmerzlich."

Hertl führte auch eine gezielte jährliche Fortbildungsveranstaltung für Kinderkrankenschwestern im Niederrhein-Bereich ein. Ab Mitte der 60er Jahre wurden die Kinderkliniken, zunächst mit den sogenannten Gastarbeitern, vor große Verständigungsprobleme gestellt. Prof. Hertl entwickelte Informationsschriften für die Eltern und zweisprachige Fragebogen, die bald in der ganzen Bundesrepublik verwendet wurden. Diese umfangreichen Fragebogen zur Aufnahme eines Kindes ins Krankenhaus standen schließlich in 13 Fremdsprachen, bis hin zu Arabisch und Chinesisch, zur Verfügung.

Die ganz große Herausforderung aber kam erst, als Hertls Ruhestand nahte: Im Frühjahr 1987 plante die Krankenhausleitung, die Kinderklinik in wenigen Jahren zu schließen. "Das war eine schlimme Sache", sagt Michael Hertl. "Damit sollte Platz geschaffen werden für eine Orthopädie-Klinik - zulasten der Kinder." Und das wollte er auf keinen Fall mitmachen. Der sonst so freundliche "Herr alter Schule" wagte den Aufstand, für "seine" Kinder. Sie sollten in umliegende Kliniken geschickt werden. "Wenn aber jemand Besuch im Krankenhaus braucht, dann sind es Kinder. Die Eltern müssen kurze Anfahrtswege haben", argumentierte der Professor. Und das nicht nur intern, sondern öffentlich und laut.

Die erste Folge: Hertl bekam Sprechverbot zu diesem Thema. Doch dies bewirkte das Gegenteil. "Maulkorb für Professor" titelte die RP auf ihrer ersten Seite. Und ein "Shitstorm", wie man heute sagen würde, brach los, auch ohne Facebook, Twitter & Co. Leserbriefe ohne Ende erschienen, Fernsehen, Rundfunk, Boulevardpresse und "bunte" Blätter gaben sich die Klinke in die Hand bei Michael Hertl, der einen Anwalt eingeschaltet und "innerhalb von acht Tagen meine Stimme wieder hatte". Eine Bürgerinitiative wurde gegründet, sammelte Unterschriften. "22 587 kamen zusammen. Diese Zahl vergesse ich nie", sagt Professor Hertl. Im Dezember kam NRW-Gesundheitsminister Hermann Heinemann höchstpersönlich in die Klinik, um sich zu informieren. Und entschied: "Die Kinderklinik bleibt."

(RP)
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