Rp-Serie Kriegsende Aus dem Tagebuch eines Zwangsarbeiters

Mettmann · Hermann Iseke (84), Seniorchef der Kalkwerke Oetelshofen, hat das "Tagebuch eines Überlebenden" übersetzt. Darin beschreibt Vito Savini die Qualen der Zwangsarbeiter. Er hatte, wie viele Landsleute, in dem Betrieb in Hahnenfurth arbeiten müssen.

Wülfrath September 1943: Im kroatischen Ragusa greift Vito Savini zum ersten Mal zu Stift und Papier. "Das ersehnte Traumbild rückt näher: Das Zuhause, die Mama, das Zivilleben", schreibt der damals 23-Jährige in sein Tagebuch. Viele Monate der Besatzung liegen da schon hinter dem jungen Italiener, die Angst vor den Deutschen treibt ihn um. Die Hoffnung auf Heimkehr, sie sollte sich als trügerisch erweisen. Erst zwei Jahre später legt er den Stift endgültig beiseite. Der Krieg ist vorbei, im heimischen Ancona trifft Vito Savini im August 1945 auf eine traumatisierte Familie. Das Haus ist weg, und auch die Seelenwelten sind allerorten zusammengebrochen.

Fast sechs Jahrzehnte später sitzt Hermann Iseke (84) am Schreibtisch, um die Tagebuchaufzeichnungen zu übersetzen. Man kann es wohl einen Zufall nennen, der dafür gesorgt hatte, dass dem Seniorchef der Kalkwerke Oetelshofen das "Tagebuch eines Überlebenden" in die Hände gefallen war. Iseke war damals in Florenz unterwegs, um ehemalige italienische Zwangsarbeiter zu treffen, die bis zum Kriegsende in den Hahnenfurther Kalkwerken gearbeitet hatten. Und Vito Savini war einer von ihnen.

"Ein Lexikon wurde verschlissen", erinnert sich Hermann Iseke an die vielen Tage und Abende, die er mit der Übersetzung zugebracht hat. Mit ihr kam die Erinnerung an die Kriegszeiten zurück - und wie bei so vielen der Überlebenden waren sie vor allem eines: unendlich schmerzlich und voller traumatischer Erlebnisse. Zeile für Zeile breitete sich erneut das Unheil vor den eigenen Augen aus. Diesmal allerdings war es das Leid der Anderen - der Zwangsarbeiter im Kalkwerk, das der Onkel des damals 14-Jährigen führte.

Es waren Worte voller Verzweiflung, die Hermann Iseke teilhaben ließen an dem Erleben der Italiener, die noch bis kurz vor Kriegsende in einer Baracke unweit des Werksgeländes wohnten. "Hier findet man weder Literatur noch Redekunst: Es ist die Seele meiner Kameraden im Unglück und im Exil. Für mich, für sie und auch für unsere Kinder habe ich es täglich mit vor Schwäche und Erschöpfung zitternder Hand niedergeschrieben", stellt Vito Savini seinen Tagebuchaufzeichnungen in wenigen, dafür jedoch umso eindringlicheren Worten voran.

Liest man weiter, so wird man Zeuge schier unerträglicher Qualen: "Es ist schon Nacht und man ist immer noch bei der Arbeit. Wann - so Gott will - lassen sie uns endlich aufhören? Die Glieder, die Muskeln, die Nerven: Alles ist steif und kaputt." Jeden Tag aufs Neue schleppten die Menschen ihre geschundenen Körper in den Steinbruch, angetrieben von Vorarbeitern, über die Savini schrieb: "Jedes ihrer Worte ist ein Schraubstock, der unsere Seelen zwischen die Zähne nimmt." Schreien, Befehlen und Schlagen sei an der Tagesordnung gewesen. "Sechs Grad unter Null, die Wäsche noch nass vom Vortag und vom Hunger gequält: So gehen wir zur Arbeit. Poesie des Lebens!!" Derweilen müssen alle hilflos zuschauen, wie ein Kamerad im Sterben liegt: "Es ist schauderhaft anzusehen. Bleich das schlaffe und geschwollene Fleisch, die Augen schon nahe beim Verlöschen und vergehen..."

Wort für Wort breitet sich Grauen aus, zuweilen auf eindringliche und schier unerträgliche Weise. Man möchte die Seiten einfach zuschlagen und alles vergessen. Hermann Iseke hat es dennoch nicht getan. Als eine der ersten deutschen Firmen traten die Kalkwerke Oetelshofen der "Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft" zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter bei, um dort ihren Beitrag zu leisten. Und später griff der Seniorchef auch selbst nochmals zum Stift. In einer Festschrift anlässlich des 100-jährigen Firmenjubiläums blickte er unter anderem auf die Kriegszeiten zurück: offen, ehrlich und ungeschönt.

(magu)
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