Meerbusch Endlich Künstlerin

Meerbusch · Die ungewöhnliche Lebensgeschichte der Meerbuscherin Anna Beckenbach zeigt: Das Leben ist manchmal eben doch eine Schachtel Pralinen.

 Anna Beckenbach in ihrem Malzimmer in Meerbusch - ihr eigentliches Atelier befindet sich in Flingern.

Anna Beckenbach in ihrem Malzimmer in Meerbusch - ihr eigentliches Atelier befindet sich in Flingern.

Foto: Ulli Dackweiler

Es ist nur eine kleine Anekdote am Anfang, eine Verwirrung. Sie erzählt jedoch viel von Anna Beckenbach, die mit ihren Werken gerade die Kunstwelt aufzumischen beginnt. Im Gespräch über ihr Leben und ihren ungewöhnlichen Weg zur Malerei, begeht sie eine List: Sie macht sich zunächst zehn Jahre jünger. Sie erzählt von ihrem Leben in Polen, wie sie als Au-Pair-Mädchen nach Deutschland kommt, einen netten Mann kennenlernt, sich verliebt, dann nach Deutschland geht, wegen des Eisernen Vorhangs Probleme mit der Einreise hat. Der Autor zweifelt: Wenn Ihre Altersangabe wirklich stimmt, gab es zu dieser Zeit doch schon gar keinen Eisernen Vorhang mehr. Beckenbach lächelt schelmisch, zögert. Erst ihr Agent, der beim Gespräch dabei ist, unterbricht das Spiel, löst die Verwirrung.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Anna Beckenbach ist 51 Jahre alt. Aber ihr Lebensweg ist so ungewöhnlich wie tröstlich: Das Leben ist eben doch eine Schachtel Pralinen: Man weiß nie, was drin ist.

Anna Beckenbach ist jetzt Lüpertz-Meisterschülerin, was eine kleine Sensation ist, weil sie schon früher an die Kunstakademie in Düsseldorf wollte, aber für die Aufnahmeprüfung damals schon zu alt war. Die Kunstakademie hat strenge Aufnahmekriterien: Wer ein bestimmtes Alter überschritten hat, hat es schwer. Das Prinzip Elitebildung. Die Akademie verhindert damit auch, dass selbst ernannte Künstlerinnen sich durch Geld und Zeit Eintritt in eine Boheme-Kunstwelt verschaffen. Anna Beckenbach tut alles, um nicht dem Klischee einer Freizeitkünstlerin zu entsprechen, die schöne Blumenbildchen zum Zeitvertreib malt. Sie will partout nicht dem Klischee einer reichen Frau von einer Meerbuscher Nobelstraße entsprechen, die Kunst aus dem Impetus dieses bösen Wortes "Hobby" macht. Beckenbach will anecken, provozieren, immer wieder austesten. 1965 wurde Anna Beckenbach in einem kleinen Ort bei Danzig geboren. Einzelkind, Eltern Akademiker, beide in einem Dorf geboren, doch gegensätzlicher, wie man nicht sein kann. Der Vater in der kommunistischen Arbeiterpartei PZPR, die Mutter in der Gegenbewegung Solidarnosc, er Atheist, sie katholisch. Die dreiköpfige Familie lebte in Danzig in einer kleinen Dreizimmerwohnung. "Es war immer turbulent, es gab ständig Diskussionen, aber ich wurde geliebt", sagt Anna Beckenbach, die eine erste Annäherung an die Kunst in der Schule erlebte. Weiße Zahnpasta habe man damals auf blaue Pappe gemalt, erinnert sie sich. Doch die Inspiration habe gefehlt. "Es war zu eng, ich war nicht frei." Anna Beckenbach entschied sich für einen anderen Weg. "Meinem Vater zuliebe habe ich Pharmazie studiert. Ich war nicht stark genug, Kunst zu studieren." Die Plätze für die Kunstakademie in Danzig seien limitiert gewesen. Und eigentlich war alles bereitet für einen Lebensweg als Apothekerin. Die Eltern hatten alles geplant: kleine Apotheke im Dorf, zwei Angestellte.

Das Leben kann voller Brüche sein, voller Überraschungen. Man muss die Pralinenschachtel nur öffnen. Anna Beckenbach merkte im Studium in Polen, dass sie nicht das Leben lebt, das sie leben wollte. Eine Freundin der Mutter aus Meerbusch empfahl ihr, als Au-Pair-Mädchen nach Deutschland zu kommen. Diese Frau schrieb Anna Beckenbachs Mutter einen Brief. Mit 23 Jahren kam Anna Beckenbach also nach Deutschland, 1988 war das, Deutschland war noch geteilt, und in Meerbusch-Büderich spielte sie jeden Tag auf einem Spielplatz mit den Kindern, die sie zu betreuen hatte. Ein alleinerziehender Vater kam immer wieder mit seiner Tochter vorbei. Anna Beckenbach mochte diesen Mann, der begnadeter Musiker ist, Cello spielt. Auch ein Künstlertyp. Seelenverwandtschaft. "So haben wir uns kennengelernt", sagt Anna Beckenbach heute. Es wurde eine Liebe, zart noch, nicht vorhersehbar.

 Zwei großformatige Werke von Anna Beckenbach, beide haben keinen Namen.

Zwei großformatige Werke von Anna Beckenbach, beide haben keinen Namen.

Foto: Beckenbach

Anna Beckenbach war geradezu beruhigt, als nach wenigen Monaten ihr Visum ablief, sie zurück nach Polen musste. Ein Teil in ihr war froh: Dieser Teil merkte, dass Anna Beckenbach die gewohnten Bahnen zu verlassen drohte. Der andere Teil in ihr wurde da unterdrückt - der, der die Freiheit sucht. Es war der Konflikt einer jungen Frau, die den Wünschen ihrer Eltern gerecht werden wollte, die gleichzeitig einen großen Drang nach Kreativität spürte. "Ich wusste doch, welche Schwierigkeiten es bringt. Damals gab es noch den Eisernen Vorhang. Ich wusste, dass ich meine Eltern nur schwer würde wiedersehen können." Beckenbach ging zurück, doch auch in der kurzen Zeit in Polen blieb der Kontakt zum Mann in Deutschland. "Ich dachte erst, das klingt ab, ich dachte, er gibt auf." Man kann sagen: Die Liebe war größer als erhofft.

Im November 1988 kam der Mann, Klaus Beckenbach, für zwei Tage nach Polen, im Dezember beschloss Anna Beckenbach, für immer nach Deutschland zu gehen. "Am 6. Januar 1989 habe ich meinen Eltern gesagt, dass ich nie mehr zurückgehe." Dass sie in Deutschland bleiben konnte, gelang ihr über Zufälle. Der Vater erinnerte daran, dass der Großvater aus Duisburg stammt. Im polnischen Konsulat Bonn stellte man ihr ein Visum aus, das eigentlich nur Diplomaten vorbehalten ist. Anna Beckenbach lebte ihr zweites Leben. Sie heiratete, bekam mit ihrem Mann ein weiteres Kind, arbeitete in einer Apotheke und als Dolmetscherin auf der Düsseldorfer Messe, was sie bis heute macht. 1992 wurde ihr Sohn Lukas geboren. Sie lebte ein glückliches Leben als Mutter. "Ich war so erfüllt, als mein Kind da war." Kunst erlebte sie in dieser Zeit als Rezipient: Bücher und Museen, immer wieder nach Bonn, Köln, Düsseldorf. Mit 27 Jahren besuchte sie auch die Kunstakademie Düsseldorf. Sie wollte den Geist erfassen, schnuppern, erleben. Sie traf auf Professor Lüpertz und war fasziniert von diesem Mann. "Sein Aussehen hält einen fest, seine Stimme, seine Aura." Noch aber war der Drang nach Kunst nicht stark genug: Es gab die innere Verpflichtung, den Kindern eine gute Mutter zu sein. Da war außerdem die Hürde der Altersbeschränkung an der Akademie.

Es vergingen weitere Jahre, wieder half ein Zufall. Leonie, Tochter von Ehemann Klaus, nahm Malkurse bei einer Freundin. Anna Beckenbach kam mit, nahm ebenfalls an Kursen teil. Dort entwickelte sie einen Malstil, stark expressionistisch, der Mensch und Tier zeigt, stets abstrahiert. Ein befreundeter Architekt zeigte sich so begeistert, dass er ihr ein Atelier in Flingern im "Flur 11" anbot. Das ist jetzt ihr zweites Zuhause, Beckenbach fährt mit der Straßenbahn oder dem Rad rüber, Jogginganzug, fleckig von der Farbe: "Jetzt fühle ich mich bereit, jetzt habe ich die Freiheit, die Lebenserfahrung." Manchmal male sie in Flingern wie im Rausch. Um 17 Uhr fährt sie los, öfter erst um 2 Uhr kehrt sie zurück. "Ich esse nicht, ich trinke nicht, ich rauche nur."

Anna Beckenbach war nun Malerin, doch da war noch dieser Typ Lüpertz, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. Sie wollte ihn kennenlernen. "Ich wollte wissen, ob ich ihn glorifiziert habe." Sie belegte zunächst einen einwöchigen Kursus bei Lüpertz in einer Akademie in Bad Reichenhall. "Ich habe in dieser Zeit nur gemalt, Tag und Nacht." Lüpertz sei begeistert gewesen, sagt Anna Beckenbach ohne Umschweife. "Willst Du bei mir studieren?", habe er sie gefragt. Eine Bewerbung war dafür nötig. Anna Beckenbach ging nach Hause, schrieb einen langen Bewerbungsbrief. Sie nennt ihn "Pamphlet". Man kann auch sagen: ein Liebesbrief an die Kunst und an den Menschen Lüpertz. "Seine Andachten und Predigten sind Lyrik. Er ist ein wunderbarer Pädagoge. Wenn er ein Bild betrachtet, ist das wie eine Seelenschau. Er ist aber auch nie schonend. Sei aggressiv, sagt er ihr." Ein Punk.

Anna Beckenbach bekam den Studienplatz. Sie ist plötzlich Lüpertz-Schülerin. "Vulkanausbrüche" habe sie in sich gespürt. Zuerst studierte sie an einer Akademie in Bad Reichenhall, folgte Lüpertz dann 2014 an die Akademie der Bildenden Künste in Kolbermoor. Regelmäßig besuchte sie dort Seminare, packt nur Rucksack und Isomatte ein. Sie schlief dort auf dem Boden, wollte sich für eine arme Studentin fühlen. "Ich mag die Überforderung." Sie denkt dann an Lüpertz, der ihr manchmal sagt: "Glücklich sein ist kein Impuls, Du musst leiden." Anna Beckenbach nimmt dies an. Diese Attitüde schenke ihr schließlich ihre Bilder, die großformatigen Bilder mit zarten Farben, die auf den ersten Blick nicht aggressiv sind, ihre Spannung erst zu verbergen wissen.

Wer sich mit Anna Beckenbach diese Bilder anschaut, der bekommt Erklärungen geliefert. Sie will, was untypisch für einen Künstler ist, ihre Motive selbst deuten. Vielleicht kann sie dies mit der Lebenserfahrung und dem so gewonnenen Mut unbefangener machen als junge selbstzweifelnde Akademieabsolventen. "Meine Bilder sind toll", sagt Anna Beckenbach. Nie perfekt sollen die Menschen und Fabeltiere sein, die sie da zeichnet. Niemals sollen sie nur Lückenfüller sein, an eine Wand gehängt werden, um ein weißes Loch zu verdecken. Und verkaufen wolle sie am liebsten nur an Menschen, die sich ihren Werken hingeben. Derzeit malt sie die sieben Todsünden auf einer Fläche von 9 x 1,60 Metern. Gerade hat sie ihren Abschluss an der Akademie der Bildenden Künste in Kolbermoor bei Lüpertz gemacht. Ihre ersten Werke haben Eingang in die Buchreihe "Internationale Kunst Heute 2016" gefunden. In Rom hat sie jetzt einen von fünf angesehenen Preisen des römischen Kunstkuratoriums verliehen bekommen.

51 Jahre, endlich Künstlerin, aber Anna Beckenbach will keine Zeit bedauern, nicht die in Polen, nicht die als Mutter, nicht die als Apothekerin.

Fühlen Sie sich jetzt, da sie Kunst machen, endlich am richtigen Fleck, Anna Beckenbach? "Es gibt keinen richtigen Flecken. Ich fühlte mich schon immer angekommen."

(RP)
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