Leverkusen Wolfgang Orth - Mister "Jazz" wird 70

Leverkusen · Der Wiesdorfer "Szene"-Wirt und Künstler Wolfgang Orth blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Am Samstag feiert "Mister Jazz" Geburtstag, in seinem zweiten Wohnzimmer, dem Leverkusener Jazz-Zentrum "topos".

Leverkusen: Wolfgang Orth - Mister "Jazz" wird 70
Foto: RED

Der 25. April 1945 ist ein historisches Datum. In Torgau treffen amerikanische und russische Soldaten aufeinander, begrüßen sich freundlich, feiern das sich abzeichnende Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine persönliche Glücksstunde erlebt an diesem Tag auch Helene Orth: In Große Ledder bringt sie ihren Sohn Wolfgang zur Welt. Die hochschwangere Wiesdorferin wurde wegen der anrückenden Truppen der Alliierten frühzeitig ins Bergische evakuiert. Am 14. April war weitgehend Schluss mit den Kriegshandlungen in Leverkusen.

Am Samstag feiert Goldschmied, Jazz-Fan und topos-Wirt Wolfgang Orth seinen 70. Geburtstag. Dort, wo er seit knapp 46 Jahren ein zweites Wohnzimmer hat, in dem Ehefrau Ingrid mit 17 Jahren eingezogen ist. Die wilde Ehe wurde 2006 durch Oberbürgermeister Ernst Küchler legalisiert, die Verbindung hält damit insgesamt schon 43 Jahre.

 Spontan-Band bei Street-Life (v.l.): Ingrid Orth, Jazz Lev-Vizevorsitzende Birgit Kremer und Wolfgang Orth.

Spontan-Band bei Street-Life (v.l.): Ingrid Orth, Jazz Lev-Vizevorsitzende Birgit Kremer und Wolfgang Orth.

Foto: Uwe Miserius

Wolfgang Orth wuchs mit Bruder und Schwester in gut bürgerlichem Milieu auf. Die riesige elterliche Wohnung an der Hauptstraße 75 in Wiesdorf (Orth: "Wir hatten sechs bis sieben Zimmer") diente nach dem Zweiten Weltkrieg zwei weiteren Familien als Unterkunft. Sie waren den Orths wegen des kriegsbedingten Wohnungsmangels von den Behörden zwangszugewiesen worden. Ein damals durchaus übliches Verfahren.

Obwohl es der Vater von Wolfgang Orth, ein Berufsmusiker, gern gesehen hätte, endete die Musikerkarriere des Sohnes schon in der Quarta des ehemaligen Carl-Duisberg-Gymnasiums. Nach einem misslungenen Vorspiel beim vorweihnachtlichen Schulfest kam der kleine Wolfgang weinend nach Hause. Wütend sprang er auf den Geigenkasten und zerstörte das Instrument. "Da bezog ich die einzige Prügel meines Lebens", erzählt Orth. Die Dreiviertel-Geige hatte den Vater damals immerhin 5100 Mark gekostet.

Als junger Mann führte Wolfgang Orth ein buntes Leben. Er lernte das Goldschmiede-Handwerk, büxte aber immer wieder für einige Zeit in Richtung Frankreich und Spanien aus. Mit einem Freund trampte er nach St. Tropez und nach Paris, wahlweise auch an die spanische Küste. Gelebt haben die Freunde von Zauberkunst-Vorstellungen oder Straßenmalerei. In Spanien lohnten sich vor allem Heiligenbilder: "Die Spanier spendeten viel, die Frauen küssten teils meine Madonna-Bilder am Boden", erzählt Orth. Über eins kann er heute schmunzeln: "Die französische Polizei hat mich nie erwischt. Ich war zu schnell, musste aber manchmal meine Einnahmen zurücklassen." Ein anderes Mal wurden die Freunde von einem Paar in einem 2 CV aufgelesen. Wie sich später bei der Ankunft an einem Schlösschen herausstellte, war es ein Ricard-Erbe, der Orth und Freund eine Woche bei sich wohnen ließ.

Künstlerisch beeinflusst wurde Orth unter anderem von seinem Onkel Hanns Rheindorf. Der sakrale Bildhauer arbeitete zu dieser Zeit am Kölner Dreikönigenschrein. Das war schon etwas Besonderes: "Ich durfte ihn in der Werkstatt meines Onkels anfassen." Orth arbeitete im "erweiterten Praktikum" auch bei einem Kunstbetrieb an der Subbelrather Straße, schaute sich Arbeitstechniken bei einem Eremiten im Siebengebirge ab und lernte das Goldschmiede-Handwerk bei einem Meister in Bad Godesberg.

Abwechslungsreich ging es später in Leverkusen zu. Über jede Episode ließe sich ein Buch schreiben. Als die City C entstanden war, betrieb Orth das beliebte Galerie-Café und eine Galerie in der dritten Etage des heutigen "Ärzteturmes". Vorher hatte Orth in Räumen der WGL (damals: GSG) an der Niederfeldstraße einen Ausstellungs- und Arbeitsraum. Die musikalischen und literarischen Veranstaltungen dort waren legendär, dauerten lange und hielten Orth zunehmend von der künstlerischen Arbeit ab. Zu dieser Zeit ließ sich Orth von einem Geschäftsmann zu einer Stippvisite nach Düsseldorf locken. Die Galerie lag dort mitten im Geschehen am Bilker Platz. Die Schickimicki-Gesellschaft gab sich die Klinke in die Hand. Und dann vollzog Orth das Verbotene: Er warf einen Porschefahrer, der mit Nerz geschmückter Begleiterin erschienen war, kurzerhand aus dem Laden. Der offensichtlich gut betuchte Mann hatte versucht, Kunstwerke zu kaufen, hatte um den Preis gefeilscht und wollte schließlich noch in Raten zahlen. Da hatte Orth die Nase voll, wies Mann und Frau die Tür. Am nächsten Morgen spürte der Galerist die Macht dieses Düsseldorfer Besuchers: Die Tür zur gemieteten Galerie hatte ein neues Schloss, Orth war damit selbst ausgeschlossen.

Der längste Lebensabschnitt macht sich am 1969 eröffneten "topos" an der Hauptstraße fest. Ein Jahr baute Wolfgang Orth das heutige Szene-Lokal aus. Die Polyester-Sitzbänke und -tische sind seither unverändert und stark museumsverdächtig. 1978 gründete Orth mit Charlie Kämper, Max Preuss, Erhard Schoofs und Reinhold Braun den Jazz Lev-Club. Die Leverkusener Jazztage wurden geboren, als die Stadt das Festival noch großzügig unterstützte. Orth und Freunde verließen den Club nach einem Streit mit Erhard Schoofs. Letztlicher Auslöser war wohl eine zusätzliche Übernachtung für einen Künstler im damaligen Ramada-Hotel neben dem Forum. Darüber gerieten Schoofs und Orth aneinander, erzählt Orth. Die weitere Entwicklung ist bekannt. Die Jazztage gingen unter Eckhard Meszelinsky weiter, der Jazz Lev-Club etablierte seit 1995 erfolgreich das dreitägige Street Life-Fest an der Hauptstraße.

Es gab auch andere unruhige Zeiten in Alt-Wiesdorf: Die Häuserbesetzer- und Demonstrationsszene war sehr aktiv: "Viele Plakate und Transparente wurden bei mir gemalt, weil ich über den größten Raum verfügte", berichtet Orth. Damals ging es um preiswerten Wohnraum, aber vor allem um den Kampf gegen den Bayer-Konzern. Unvergessen: Ein Demonstrationszug mit toten Robben am Rheinufer entlang. Motto: "Der Rhein ist vergiftet, wir kennen die Täter." Gemeint war Bayer. Weiteres heißes Thema: die Verlängerung der A 59 zwischen Rheinallee und Autobahn 3. Dieses Monstrum am Werkzaun entlang und damit quer durch Wiesdorf wurde verhindert, übrigens unter wesentlicher Beteiligung der "Bürgerinitiative Wohnliches Wiesdorf". Ebenso gestoppt wurde die Idee, zwischen heutigem Chempark-Tor 8 und A 1-Autobahnbrücke einen Bayer-Containerhafen zu bauen.

Für Wolfgang Orth sind diese Geschichten abgehakt. Nach zwei Schlaganfällen und einem extensiven Leben besinnt der Wiesdorfer sich heute verstärkt auf seine künstlerischen Fähigkeiten. Oft legt er schon frühmorgens los. Das "topos" ist inzwischen ein öffentlich zugängliches Wohnzimmer mit Galerie-Ambiente. An den Wänden hängt Orth-Kunst, an fünf Tagen die Woche stehen musikalische oder literarische Künstler auf der acht Quadratmeter großen Bühne, auf der schon Stars wie Gerd Köster, Jack Dupree, Marla Glenn, Joe Henderson, Les Mac Cann, auch Helge Schneider, Bob Geldorf und viele andere gespielt haben.

Wolfgang und Ingrid Orth sind eine denkwürdige Leverkusener Kultur-Institution. Die Gäste sind mit ihnen alt geworden. Am Samstag wird Geburtstag gefeiert. Im "topos", das Geburtstagskind ist anwesend.

(RP)
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