Karl Quade, Abteilungsleiter Behindertensport Im Tsv Bayer Leverkusen "Rio wird ein Feuerwerk an Leistungen"

Leverkusen · Der 61-Jährige, der die deutsche Mannschaft in Brasilien zum 11. Mal als Chef de Mission bei den Paralympics begleitet, glaubt im Behindertensport die Rekorde noch lange nicht am Ende, sieht in Markus Rehm den nächsten großen internationalen Paralympics-Star und beklagt die fehlende Bereitschaft der Deutschen, sich für Olympische Spiele zu öffnen.

Herr Quade, wenn ich Sie so direkt fragen darf: 2015 - ein fast perfektes Sport-Jahr für Sie?

Quade Die Frage lässt sich nicht in aller Kürze beantworten. Aber neben vielen tollen Momenten - da denke ich etwa an die Erfolge bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften, die aus deutscher und vor allem Leverkusener Sicht, herausragend waren - hätte ich mir natürlich einen positiven Bürgerentscheid für eine deutsche Olympiabewerbung gewünscht. Insofern haben Sie recht mit Ihrer Frage. Persönlich hat mich das enttäuscht.

Die Hamburger Bürger haben gegeneine Olympiabewerbung gestimmt. Warum enttäuscht Sie das so?

Quade Wenn man über viele Jahre in unterschiedlichen Funktionen im Sport tätig ist, selbst Athlet war und viele nationale und internationale Veranstaltungen mitmachen durfte, wären Spiele im eigenen Land etwas Besonderes und sicher der Höhepunkt gewesen. Dass es nicht klappt, stimmt mich traurig.

Überraschte Sie das Ergebnis?

Quade Ich zähle zu der Generation, die die Spiele in München '72 noch in Erinnerung hat. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass es nach den unglücklichen Ergebnissen in Leipzig, München und Berchtesgaden diesmal klappt. Und dass Hamburg in dieser Phase dahinter steht. Ob die Spiele nach Deutschland gekommen wären, stand ohnehin auf einem anderen Blatt.

Ist es so enttäuschend, weil das Nein aus der Bevölkerung kam?

Quade Die Volksbefragung gehört dazu, um dem IOC deutlich zu machen, dass die Spiele von den Menschen in der Stadt getragen werden. Aber das werden sie in Hamburg offenbar nicht, was sehr schade ist. Das haben wir so nicht erwartet.

Das klingt nicht nur nach Enttäuschung des Funktionärs, der unter anderem als Vizepräsident Leistungssport im Behindertensport-Verband tätig ist, sondern vor allem nach persönlicher Enttäuschung.

Quade Ich sehe das zunächst aus Sicht des Verbandes. Wir waren dieses Jahr in Peking, sind nächstes Jahr in Rio, reisen permanent auf andere Kontinente. Logistisch ist das nicht einfach. Ich hätte gerne nochmal Spiele vor der Haustür gehabt.

Hätte Deutschland die Spiele austragen können?

Quade Sicher.

Der Bürgerentscheid fand unmittelbar nach den Anschlägen von Paris und den Enthüllungen rund um die Fußball-WM-Vergabe 2006 statt.

Quade Aber es handelte sich um eine Abstimmung für eine Veranstaltung im Jahr 2024. Es galt, eine Entscheidung für die Zukunft zu treffen. Mit einer Olympiabewerbung wären finanzielle Mittel bereitgestellt worden, die der Stadtentwicklung zugute gekommen wären. Niemand soll glauben, dass diese nun annähernd so vorangetrieben wird. Wissen Sie, was mich stört? Diese typisch deutsche Mentalität und das fehlende Offensein für Entwicklungen. Wenn ich sehe, wie weltoffen einige Nationen nach vorne marschieren - dagegen herrscht in Deutschland Gartenzwergidylle. Nach dem Motto: Ich will meinen Hof bestellen und weiter nichts. Was das angeht, werden wir abgehängt in der Welt.

Glauben Sie, dass die Entscheidung bei einem Fußball-Turnier anders ausgefallen wäre?

Quade Ganz klar ja. Wobei die Fußballer gar nicht auf die Idee kommen würden, eine Volksbefragung durchzuführen. Das werden sie für die EM 2024 auch nicht machen.

Heißt, Deutschland ist eine Fußball-Nation, aber keine Sport-Nation?

Quade Ich will nicht sagen, dass Deutschland keine Sport-Nation ist. Es gibt unglaublich viele Menschen, die Mitglied im organisierten Sport sind oder sich im nicht organisierten Sport, sei es durch Joggen oder Rad fahren, bewegen. Aber wenn es um den Zuschauer-Sport geht, ist der Fußball schon sehr dominant.

Die Quoten bestätigen das.

Quade Darauf kann man neidisch sein, aber das hat sich der Fußball erarbeitet. Ich finde das selbst auch nicht gut, weil es so viele interessante, auch paralympische Sportarten mit tollen Bildern zu sehen gäbe. Leider hat Deutschland eine Chance verpasst, etwas für die anderen Sportarten zu tun. Das mag auch daran liegen, dass der leistungsorientierte Sport nicht mehr die Rolle in der Gesellschaft spielt wie noch vor einigen Jahren. Ob der organisierte Sport nach Olympischen Spielen mehr Mitglieder gehabt hätte, darüber vage ich keine Prognose. Aber einigen Sportarten hätte man sicher in ihrer Entwicklung helfen können.

Was meinen Sie?

Quade Es wäre mehr Geld in die Verbandsförderung geflossen und für Bildung bereitgestellt worden. Für Programme, von denen beispielsweise auch der Schulsport profitiert hätte und die hätten helfen können, Trends im Mitgliederschwund zu stoppen. Ich befürchte, dies wird nun wieder hinten angestellt.

Wäre das in Deutschland überhaupt gegangen zu sagen: Unsere Spiele werden andere. Wir beteiligen uns nicht am Gigantismus?

Quade Deutschland hat die Chance verstreichen lassen, diesem Trend entgegenzusteuern und darüber hinaus zu zeigen, dass wir ein Großereignis wie Olympische Spiele nach Integritätskriterien durchführen können, die einer westlichen Demokratie angemessen sind. Dass wir die Dinge wie "Good Governance" hochhalten und Spiele eben nicht in einem Land stattfinden, wo ethische und moralische Bedenken herrschen.

Auch der Behindertensport in Deutschland hätte sicher profitiert.

Quade In Rio werden die Behindertensportler ähnliche Probleme bekommen wie in London. Dort werden Athleten-Dörfer gebaut, die in der Nachnutzung in großen Teilen nur für Menschen ohne Behinderung in Frage kommen. Ich hätte gerne die Idee eines inklusiven Stadtteils umgesetzt. Das wäre etwas völlig Neues gewesen.

Was erwarten Sie von Rio?

Quade Ich war im September zuletzt dort und nicht zufrieden. Die Wege sind sehr weit - wenn es so bleibt, wird es für die Behindertensportler kompliziert. Wir haben mächtig protestiert und sind dahinter, dass daran gearbeitet wird.

Brasilien kämpft überdies mit Umweltproblemen.

Quade Das größte Problem ist das Wasser, das an den Austragungsorten der Segler, Triathleten und Freiwasserschwimmer so verschmutzt ist, dass es gesundheitsschädlich sein soll. Die Veranstalter haben uns im Beisein der Weltgesundheitsorganisation versprochen, dass sie das in den Griff zu bekommen.

Kann der Sport umweltpolitisch tatsächlich etwas bewirken?

Quade Druck lässt sich nachträglich nur sehr partiell ausüben. Man kann mit Boykott drohen. Aber tatsächlich ist es im Vorfeld der Entscheidung versäumt worden zu klären, dass die Dinge in Ordnung sind. Vor einer Vergabe versprechen die Organisatoren viel und sind zu allem bereit, weil sie die Spiele unbedingt haben wollen. Ist die Vergabe erst einmal erfolgt, wird gerade bei den Sportstätten oft zurückgerudert.

Wie ist die sportliche Zielsetzung?

Quade Wir werden ein Feuerwerk an Leistungen sehen, an dem Deutschland sich beteiligen möchte. Die gehandicapten Leichtathleten haben im Sommer gezeigt, wozu sie in der Lage sind. Sie haben gute Chancen, besser abzuschneiden als in London. Auch in den klassischen Sportarten wie Radsport und Reiten wird Deutschland eine gute Rolle spielen. Tischtennis ist mit vielen jungen Leuten im Kommen. Genauso haben wir bei den neuen Sportarten Triathlon und Kanu Medaillenhoffnungen. Es zeichnet sich ab, dass Deutschland in mehr Sportarten teilnimmt als 2012.

Heißt: Der Behindertensport ist noch nicht am Ende?

Quade Der Sport ist erst so professionell seit den Spielen 2000 und 2004. Wir ernten jetzt erst langsam die Früchte. Das hat damit zu tun, dass die Rahmenbedingungen immer besser werden und sich immer mehr junge Sportler im Rahmen der dualen Karriere für den Leistungssport entscheiden. Das heißt nicht, dass sie mehr verdienen, sie haben dadurch eine bessere Fokussierung auf ihren Sport. Natürlich profitieren sie auch von der Prothetik.

Sind Sie zufrieden mit den Rahmenbedingungen?

Quade Wir müssen noch viel mehr nachholen. Wir fordern von den Sportlern Professionalität, aber dann muss auch das Begleitsystem professionell werden. Wir arbeiten mit minimalster Zahl an professionellen Trainern. Das ist der Riesenunterschied zum olympischen Bereich, wo viele Hauptamtliche beschäftigt sind. Sportler wie Markus Rehm brauchen professionelle Trainer. Beim TSV haben wir das Glück, mit Karl-Heinz Düe einen erfahrenen Coach zu haben, der viel Zeit in seiner Freizeit aufbringt. Dazu kommen am Stützpunkt Leverkusen anderthalb volle Stellen, die mit hochengagierten und kompetenten Trainerinnen besetzt sind. Im DBS gibt es einen hauptamtlichen Leichtathletik-Trainer. Fragen Sie mal, wie viele der Leichtathletik-Verband hat.

Wird man zu wenig gehört?

Quade Da wird schon mächtig gebohrt bei Bund und Land. Der Behindertensport wird auch immer als toll und wichtig erachtet. Aber wenn es darum geht, Geld zu verteilen, dann sind sich andere Verbände selbst am nächsten. Für das kommende Jahr bleiben die finanziellen Mittel gleich. Die Aufstockung sind bereitgestellte Mittel zur Bewältigung der Flüchtlingssituation.

Sie sind im Bundesministerium des Inneren (BMI) seit diesem Jahr für EU- und internationale Sportangelegenheiten zuständig. Wie kann der Sport bei der Integration helfen?

Quade Es gibt bereits mehr als 1000 Vereine, die Integration durch Sport betreiben. Das Bundesinnenministerium hat dafür ein Programm auferlegt, das zunächst auf Migranten fokussiert war, nun auf Flüchtlinge ausgeweitet wird. Sport ist eine gute Beschäftigung und soll helfen, Völkerverständigung zu betreiben. Das ist eine unserer Aufgaben im BMI. Daneben werden Sportpädagogen ausgebildet, die bisher in Krisenregionen gingen und nun auch in Deutschland zum Einsatz kommen sollen. Es ist ja nicht so, dass man sagt: Hier ist ein Ball, spielt Fußball. Da treffen unterschiedliche Kulturen aufeinander. Ich empfinde das als große Herausforderung, die Leute zusammenzubringen und die Integration an den Wertemaßstäben zu orientieren, die in Deutschland herrschen.

Im Behindertensport ist Inklusion das große Thema. Wie weit ist Deutschland dabei und wie kann diese vorangetrieben werden?

Quade Man muss Spitzen- und Breitensport unterscheiden. Ich würde mir wünschen, dass die Leute im Alltag offener zugehen auf Menschen mit Behinderung und den allgemeinen Sport mehr für sie öffnen. Es gibt eine große Zahl von Menschen, die keinen Zugang zum Sport haben. Wenn es über Breitensport hinausgeht, fehlen von der Basis bis zur Spitze Ansprechpartner, die sich um diese Sportler kümmern. Eines der zentralen Themen im Behindertensport ist die Frage: Wo können wir Leute unterbringen, die sich bei Talenttagen melden? Die können leider nicht alle nach Leverkusen.

Gab es Überlegungen, den Standort Leverkusen auszuweiten?

Quade Es gibt immer wieder Anfragen, aber wir beschränken uns auf Leichtathletik, Schwimmen und Sitzvolleyball. Wir haben so schon viel zu tun. Dank der Unterstützung des Vereins, der Bayer AG und weiterer Sponsoren läuft hier viel im Behindertensport. Ich hoffe, dass wir das ausbauen können, ohne Sportarten dazu zu nehmen.

Das gemeinsame Sporttreiben ist auch im Spitzensport ein Thema. Wie stehen Sie zur Diskussion um gleiche Wertungen? Markus Rehm hat diese angestoßen.

Quade Wir müssen schnellstens Handlungssicherheit für die Athleten, aber auch für die Kampfrichter des Deutschen Leichtathletik-Verbandes schaffen. Für mich ist der Idealfall eine gemeinsame Wertung. Nun gilt es, zu schauen, wo geht das und wo nicht. Was die Diskussion um Markus Rehm angeht, ist das eine unglückliche Entscheidung der IAAF. Das spricht schon fast gegen gute Verbandspraxis, wenn Athleten den Beweis erbringen sollen, dass sie keinen Vorteil haben. Ich hoffe, dass wir bis Ende 2016 eine Einigung mit dem DLV erzielt haben - national geht es darum, dass Athleten das Wettkampfsystem nutzen wollen.

Sie fordern mit DBS-Präsident Beucher von der IAAF im Fall Rehm konkrete Angaben zur Erstellung eines Gutachtens. Sehen Sie ihn mit seiner Prothese im Vorteil?

Quade Das zu klären, ist die Gretchenfrage. Ich erlaube mir da kein Urteil, aber ich bin mir sehr sicher, dass er auch mit zwei nicht behinderten Beinen über acht Meter springen würde. Ich kenne keinen deutschen Weitspringer, auch nicht aus dem olympischen Bereich, der so gut landet wie er. Wenn das so einfach wäre mit Prothesen, dann gäbe es noch mehr Leute wie Markus. Das zeigt doch: Es ist nicht die Prothese, die so weit springt, das ist der Athlet. Ich finde es unschön, seine Leistung nur auf den Carbonfuß zu reduzieren. Sollte ein Vorteil festgestellt werden, könnte man darüber nachdenken, über Regeln das Material einzubremsen.

Sie müssen froh sein, im TSV und im Nationalteam einen wie Markus Rehm zu haben.

Quade Er ist ein Gesicht der paralympischen Bewegung. Sympathisch, ein toller Athlet und auf dem besten Weg, der nächste Weltstar im Behindertensport zu werden. Er ist ein Aushängeschild und tut dem Sport sehr gut.

In Rio sind Sie zum elften Mal Chef de Mission bei den Paralympics.

Quade Ein schönes rheinisches Jubiläum, finden Sie nicht? Das wird wieder eine ganz neue Herausforderung, aber ich bin jetzt schon Feuer und Flamme und hoffe, dass wir den Athleten bis dahin bestmögliche Bedingungen schaffen können.

STEFANIE SANDMEIER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort