Weitspringer Alyn Camara "Ich habe mich damit abgefunden, dass gedopt wird"

Leverkusen · In der Sandgrube ist Alyn Camara ein echter Spätstarter. Über Fußball und Basketball landete der Sohn einer deutschen Mutter und eines senegalesischen Vaters bei der Leichtathletik, wo er noch 2008 bei der Deutschen Junioren-Meisterschaften Bronze im Hürdenlauf und Mehrkampf gewann. Erst nach einer Verletzung sattelte der 1,96-Meter-Athlet auf Weitsprung um. Hier stand seine Bestleistung 2010 noch bei 7,75 Metern.

 Weitspringer Alyn Camara.

Weitspringer Alyn Camara.

Foto: wolfgang Birkenstock

Seitdem hat Camara unter Trainer Hans-Jörg Thomaskamp in Leverkusen akribisch an sich gearbeitet. "Ich habe ein paar Fehler, die schwer rauszukriegen sind. Ich musste beispielsweise jahrelang an meiner Kopfhaltung arbeiten", erklärt der 25-Jährige - aktuell auch Praktikant beim TÜV Rheinland.

Nachdem er in Moskau vor zwei Jahren den Sprung unter die letzten Acht verpasste, will er bei diesen Weltmeisterschaften das Finale erreichen. Camara glaubt, dass eine Weite um 8,00 Meter nötig sein wird. Das ganz große Ziel aber sind die Olympischen Spiele in Rio 2016. Darauf ist das Training ausgerichtet. Schon jetzt sucht Camara für seine Familie nach Unterkünften.

Nach der letzten WM sind Sie enttäuscht aus Russland abgereist. Was ist diesmal möglich?

Camara Den wahren Grund, warum es in Moskau nicht lief, habe ich erst danach erfahren. Ich hatte Pfeiffersches Drüsenfieber. Die Krankheit bremste mich ordentlich aus. Das war schade. Auch letzte Saison lief es gar nicht — das waren wohl noch die Nachwehen. Dafür bin ich in dieser Saison richtig gut drauf. Ich hatte eine super Vorbereitung im Winter mit konstanten Wettkämpfen um die 8,00 Meter. Das Ziel ist ganz klar, ins Finale zu springen.

Mit 8,22 Metern beim Heim-Wettkampf des TSV gelang Ihnen die WM-Norm und zugleich Ihr zweitweitester Sprung überhaupt.

Camara Ich fühle mich in Top-Form und bin sehr optimistisch für die WM. Ich hoffe, dass ich meine Nerven im Zaum halten kann.

Sind Sie etwa nervös?

Camara (lacht) Aber Hallo, es ist eine kleine Schwäche von mir, dass ich kurz vor einem Wettkampf mega aufgeregt bin. Zwischen dem letzten Versuch des Einspringens und dem ersten im Wettkampf bekomme ich jedes Mal flatternde Knie.

Trotzdem gelingen Ihnen gute erste Sprünge. Bei der Team-EM flogen Sie im ersten Versuch auf 8,11, in Hengelo auf 7,98 Meter.

Camara Ich hoffe ganz ehrlich, dass ich in der Qualifikation diesmal auch im ersten Versuch um die 8,00 Meter springe und meine Sachen frühzeitig packen kann. Die Qualifikation in Moskau war eine Katastrophe. Sportlich lief es nicht, dazu sprangen wir vor leeren Rängen. Die Atmosphäre war furchtbar.

Brauchen Sie die Unterstützung der Zuschauer im Stadion?

Camara Mir macht es mehr Spaß, und ich genieße es, wenn Publikum da ist, was auch mitzieht. Das war bei Olympia in London schon im Vorkampf richtig stark.

Sie haben bei den Deutschen Meisterschaften während einer Pause spontan das Mikrofon in die Hand genommen und Stimmung gemacht.

Camara Als Sportler mag ich die Kommunikation mit dem Publikum. Ich stand am Tag vorher in Nürnberg auf dem Marktplatz, sah die Tribüne samt Sprunganlage und dachte: Okay, das ist keine Meisterschaft, das ist eine Party. Ich wollte das genießen, weil ich solch einen Moment wohl so nicht mehr erlebe.

Wie meinen Sie das?

Camara Na, dass wir inmitten einer Stadt springen, wo die Zuschauer direkt neben der Anlaufbahn sitzen, und das Ganze auch noch mit Nebel- und Lichteffekten als Event gefeiert wird, ist eher ungewöhnlich. Ich habe vor den Sprüngen bewusst auf ein Lied verzichtet, weil ich diese Stimmung auskosten wollte. Es war toll: Ich habe den Rhythmus vorgegeben und die Leute haben mich mit Klatschen angefeuert. Auch für solche Momente trainiert man.

Entspricht dieses Extrovertiert-Sein auch sonst Ihrem Charakter?

Camara Denken Sie jetzt nicht, dass ich ein Party-Typ bin. Ich feiere eher selten. Ohnehin trinke ich nie Alkohol und bin privat eher zurückhaltend. Die Leute sagen oft, dass man an meiner Lache hört, dass ich in der Nähe bin. Die ist wohl ziemlich laut. Aber im Ernst: Ich genieße als Sportler die Aufmerksamkeit im Moment des Sprungs, ansonsten muss ich nicht im Mittelpunkt stehen.

Ist es dann nicht ärgerlich, bei einem solchen "Event"-Springen bloß Zweiter zu werden?

Camara Natürlich will ich gewinnen. Aber mal ehrlich: Ich habe gegen einen Weltklasse-Athleten wie Fabian Heinle verloren. Mir ist wichtig, dass ich mit meiner Leistung zufrieden bin. Wenn ich in Peking 8,10 Meter springe und nicht ins Finale komme, dann ist das so. Aber es wäre für mich eine sehr gute Weite.

Sind solche Wettkämpfe wie in Nürnberg die Zukunft des Weitsprungs?

Camara Grundsätzlich finde ich solche Wettkämpfe cool, weil sie anders sind, aber sie sind nicht der passende Rahmen für eine Meisterschaft, bei der es um Qualifikations-Normen und Titel geht. Wir sind und bleiben eine Stadionsportart. Auf einem Marktplatz wird es nie Olympische Spiele geben, und dort lassen sich auch keine Stadionbedingungen erzeugen.

Muss die Leichtathletik aber nicht gerade solche Events einführen, um die Zuschauer weiterhin für die Sportart zu begeistern?

Camara Wenn es nicht um Titel und Normen geht, finde ich solche Wettkämpfe gut. Die Veranstalter sollten generell schon überlegen, wie sie die Wettkämpfe aufwerten und attraktiver machen können. Vielleicht sollte man sogar über neue Wettkampfarten nachdenken. Was wäre denn mit einem Mixed-Wettkampf, in dem Frauen und Männer als Team antreten? Oder einer Serie aus Springen in mehreren Stätten? Die Leichtathletik hat sicher einiges verpennt.

Was zum Beispiel?

Camara Der Fußball steht ohnehin über allem, aber die Leichtathletik, immerhin olympische Kernsportart Nummer eins, hat den Anschluss verloren. Vor allem, was die mediale Präsenz angeht. Wie sollen sich Kinder für Leichtathletik begeistern, wenn sie kaum Kontakt zu ihr bekommen? Ich war auf fünf verschiedenen Schulen und hatte kaum Leichtathletik im Unterricht. Wir müssen überlegen, was wir tun können, um die Leichtathletik attraktiver zu machen, ohne dass sie ihren Charakter verliert.

Fehlt es an Typen? Müssten Sie sich vielleicht auch Ihr Trikot zerreißen?

Camara Wie Robert Harting? Das würde nicht zu mir passen. Außerdem haben wir durchaus Typen, aber wir müssten mehr Präsenz bekommen, um diese zu zeigen.

Was halten Sie von dem Video, in dem Harting und einige andere deutsche Athleten den internationalen Verband kritisieren? Hintergrund ist ein Bericht von ARD und ZDF — demzufolge es andere Länder offenbar nicht so genau mit den Dopingkontrollen nehmen und sie Doping in der Leichtathletik unterstellen.

Camara Dass sie das Video gemacht haben, finde ich okay. Aber was bringt es? Verbände sind Unternehmen, und die denken als solche. Da hängen Sponsoren und Arbeitsplätze dran. Der beste Schritt wäre, wenn die Top Ten aus jeder Disziplin sagen, wir starten nicht, bis das Doping-Thema geklärt ist. Außerdem sind das zunächst ja nur Vermutungen. Viele Athleten beschweren sich jetzt plötzlich, aber mal ehrlich: Die wissen doch alle, was los ist.

Was ist denn los?

Camara Es gibt nunmal Athleten, die das Dopen mehr oder weniger offen kommunizieren, weil sie wissen, dass nichts gefunden wird. Am Ende ist dann derjenige der Dumme, der das anzeigt. Wenn aber jemand über eine Saison hinweg, in speziellen Disziplinen, konstant auf hohem Niveau seine Leistung bringt, wissen viele, die die gleiche Sache macht, wie realistisch das ist.

An diesem Punkt beginnt Camara von seiner letzten Dopingkontrolle zu erzählen. "Die war gerade erst", sagt er mit einem Schmunzeln. Lachen muss der 25-Jährige aber weniger über die Kontrolle als über Zeitpunkt und Ort. "Mein Handy klingelte um 20.33 Uhr mit unterdrückter Nummer. Ich war gerade in Köln unterwegs." Ab dem Moment des Telefonats hat der Athlet eine Stunde Zeit, eine Probe abzugeben, erklärt Camara, der wie alle anderen Leistungssportler permanent angeben muss, wo er sich wann aufhält. Das Ende vom Lied: "Die Kontrolle fand auf einer Toilette einer Bar statt." Der Kontrolleur prüft dabei, dass der Sportler tatsächlich seinen eigenen Urin abgibt. Camaras Rekord: drei Kontrollen in vier Tagen.

Kritisieren Sie dieses System?

Camara Ich finde es fragwürdig, dass wir über jede Stunde unserer Lebens Buch führen sollen. Es wird krass in unsere Freiheit eingegriffen, in keinem Beruf muss sich ein Mensch derart nackig machen.

Wenn Sie hören, dass in anderen Ländern Dopingproben verschwinden oder gar Athleten von Kontrolleuren nicht angetroffen werden. Macht Sie das dann nicht sauer?

Camara Warum sauer? Ich habe mich damit abgefunden, dass es im Hochleistungssport eben Athleten gibt, die sich unlauterer Mittel bedienen. Das toleriere ich keineswegs, aber wenn man ehrlich ist und mal weiter schaut, ist dieses Immer-besser-sein-Wollen doch Teil der Leistungsgesellschaft. Um so höher Menschen im Beruf oder auch Sport kommen, um so größer ist die Gefahr, dass sie mehr haben wollen. Einigen Leuten fällt es dann schwer, ihre Grenze zu erkennen. Wie oft werden zweite Plätze denn schlecht geredet? Da gebe ich den Medien eine Mitschuld. Von einem Moderator erwartet man, dass er Leistungen einordnet. Der Zuschauer verlässt sich darauf, wenn er sagt, der zweite, dritte oder achte Platz ist schlecht.

Wie motivieren Sie sich, wenn Sie wissen, dass gedopt wird?

Camara Meine Motivation ist, rauszufinden, wo meine körperliche Grenze ist. Alles andere blende ich aus.

Was wollen Sie noch erreichen?

Camara Ich spreche nicht über Ziele. 8,30 Meter sind sicher fällig, alles weitere wird man sehen. Im Moment bin ich dabei, mir ein gutes Fundament für Rio aufzubauen.

Ist Olympia der große Traum?

Camara Für einen Sportler ist das das Größte. Als ich Ende 2010 meinen Trainer gewechselt habe, war die Vorgabe: Alles, was wir machen, machen wir für die Olympischen Spiele in Rio. In London war ich überraschend dabei, nach der Quali war jedoch Schluss. Diesmal soll das anders werden. Natürlich muss ich mich erst qualifizieren, aber in Rio heißt es dann: Alles oder Nichts.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort